Der Unvollendete
Michelangelo war ein Mensch, der sich teils von seinen düsteren Vorahnungen leiten und teils von seinen diversen Auftraggebern treiben ließ. Er war Pessimist von unbändiger Schaffenskraft, ein Freidenker, Freund der Republik Florenz, und doch tief fromm. Er bediente sich nie weiblicher Modelle für seine Werke. Fast 89 Jahre alt, schon vom Todesfieber geschüttelt, arbeitete Michelangelo bis zum Schluss an der letztlich unvollendeten Pieta Rondanini.
Der Junge, der mit sechs Jahren seine Mutter verloren hatte, wollte von Anfang an Künstler werden - gegen den Widerstand seines Vaters, eines einfachen Statthalters aus der Region Arezzo. 1488 wurde er Schüler des erfolgreichen Malers Domenico Ghirlandaio. Bei ihm lernte der talentierte und eifrige Michelangelo die Technik der Freskomalerei und kam schon bald an die Florentiner Hofschule. Die feinsinnige Bildung und Ausbildung bei den Medici prägte den jungen Michelangelo tief. Doch die Lehrjahre im Florentiner Elysium der Kunst waren nicht von langer Dauer. Bald nach dem Tod von Lorenzo de Medici, der ihn wie einen Sohn gefördert hatte, spürte Michelangelo den nahenden Sturz der Familie und setzte sich 1494 rechtzeitig nach Bologna ab.
Rom als Schicksalsort
Nach seiner Rückkehr war im Florenz des Bußpredigers Girolamo Savonarola für den Kunstbetrieb wenig Platz, und so folgte er dem Ruf eines Kardinals, der sein Talent erkannte, ins Ausland, nach Rom. Die widersprüchlichen Erfahrungen in Florenz – die Freigeistigkeit der Medici und die fromme Bußfertigkeit des Bekehrten – setzten in ihm Energien frei, sich den Konventionen seiner Künste und sogar dem Willen seiner Auftraggeber zu widersetzen: Seine Figuren brachten Unordnung und Dynamik, während die klassische Komposition der toskanischen Renaissance noch wohlgeordnete Ruhe und perspektivische Weite verlangte.
Rom wurde zu Michelangelos zweitem Schicksalsort. Hier schuf er seine wichtigsten Werke, sieht man vom David, dem Wahrzeichen von Florenz (1504), und dem Programm der dortigen Medici-Kapelle (1524-1533) ab. Der Künstler erlebte 13 Päpste. Am spannungsreichsten war das Dienstverhältnis zu Julius II., ebenso unnachgiebig, aufbrausend und energiegeladen wie er selbst. Zuerst setzte der Papst ihn auf ein gigantisches Marmorgrabmal für sich selbst an. Davon zog Julius ihn bald ab und verpflichtete ihn zunächst zur Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle (1508-1512) - ein Mammutwerk auf 520 Quadratmetern, das den Bildhauer auch als Maler unsterblich machte. Michelangelo war überzeugt, dass sein Rivale Bramante ihn für diese Arbeit vorgeschlagen hatte - in der Hoffnung, dass er scheitern würde.
Selbstporträt im "Jüngsten Gericht"
An dem Grabmal arbeitete Michelangelo insgesamt mehr als 40 Jahre; er wurde ständig unterbrochen und die Pläne wurden von Julius' Erben stets verkleinert. Haute stehen die einzelnan Figuren des Grabmals in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli (Moses, Rachel, Lea) und im Pariser Louvre (Sklaven und Sieger). Ein Medici-Papst, Klemens VII., verdammte ihn 1532 zu einem weiteren Meisterwerk seiner Malerei: 20 Jahre nach der Decke der Sixtina wurde Michelangelo beauftragt, ein neues Altargemälde für die Wahlkapelle der Päpste zu schaffen. Ein schreckliches, tief empfundenes Selbstbildnis hat Michelangelo im "Jüngsten Gericht" mit insgesamt rund 400 Figuren hinterlassen: Er selbst in der schlaffen, leeren Haut des heiligen Bartholomäus, gequält und ausgepumpt von diesem vielleicht wirkmächtigsten seiner Werke.
Unter Papst Paul III. übernahm Michelangelo 1547 im Alter von 71 Jahren und gegen seinen ausdrücklichen Willen die Bauleitung am Petersdom und dessen Kuppel, wobei er umgehend zahlreiche Vorarbeiten seiner Vorgänger verwarf. Für die Privatkapelle des Papstes, die Cappella Paolina, malt er beeindruckende Fresken der "Bekehrung Pauli" und der "Kreuzigung Petri", die den Zuschauer erschrecken und zum Nachdenken anregen sollen. Parallel arbeitete er an seiner "Pieta von Florenz", deren Figur des Josef von Arimathäa wiederum seine eigenen Züge zeigt. 1555 gab er diese Arbeit entnervt auf, nicht ohne die unvollendete Skulptur zuvor mit Hammerschlägen zu malträtieren.
Das versteckte Kunstwerk freilegen
Zu seinem kolossalen "David" sagte Michelangelo in Anlehnung an die platonische Philosophie, dass die Idee des Kunstwerks schon im Marmorblock schlummerte und von ihm nur freigelegt wurde. Dabei galt der Stein als "verhauen". Schon Agostino di Duccio hatte sich 1464 daran versucht und war ebenso gescheitert wie 1476 ein weiterer Künstler. Bei vielen unvollendeten Werken, wie etwa zwei Statuen der Medici-Gräber, ist nicht bekannt, ob der Perfektionist Michelangelo die Arbeit aus künstlerischen Überlegungen heraus abbrach oder ob äußere Umstände die Vollendung verhinderten.
Bei seiner letzten Pieta ist jedoch sichtbar, dass er während des Schaffens eine völlige Umgestaltung vornahm: Man sieht eine Maria, die ihren Sohn in aufrechter Position festhält – und daneben ist von der aufgegebenen Konzeption ein rechter Arm verblieben. Bis mindestens eine Woche vor seinem Tod arbeitete er an der für sein Grab vorgesehenen Skulptur. Michelangelo starb schließlich, umgeben von seinen Freunden, am 18. Februar 1564 gegen 16 Uhr in Rom. Sein Leichnam wurde auf seinen eigenen Wunsch hin heimlich nach Florenz überführt, wo ihm der Maler und Chronist Giorgio Vasari in der Kirche Santa Croce ein Grabmal errichtete. (mit Material von KNA)
Von Agathe Lukassek