Der versöhnte Kirchenkritiker
Wer war Hans Küng? Auf diese Frage gibt es viele Antworten: Der meistgelesene deutschsprachige katholische Theologe neben Joseph Ratzinger, ein Tübinger-Theologie Professor, dem die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde, einer der prägenden theologischen Köpfe des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Gründer der Stiftung "Weltethos". Das alles war der gebürtige Schweizer, der heute im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung war er über Jahrzehnte vor allem eins: der Kirchenkritiker schlechthin, sehr zu seinem eigenen Leidwesen. Denn nach eigenem Bekunden hasste er es, "ständig als Kirchen- oder Papstkritiker tituliert zu werden".
Vermerk auf der häresiologischen Karteikarte
Es lohnt sich den Konflikt zwischen Küng und dem Vatikan zumindest in groben Zügen nachzuzeichnen. Denn die theologischen Fragen, um die es damals ging, sind bis heute aktuell geblieben. Bereits als junger Theologe erschien Küng im Vatikan verdächtig. Seine 1957 veröffentlichte Doktorarbeit brachte ihm den ersten Vermerk auf der häresiologischen Karteikarte des Heiligen Uffiziums ein, dem Vorläufer der heutigen Glaubenskongregation. Diese Karte trug die Protokollnummer 399/57/i. Küng hatte mit seiner Dissertation eine ökumenische Pionierleistung erbracht. Er zeigte auf, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre, wie sie der Theologe Karl Barth vertrat, keinen Gegensatz zur rechtverstandenen katholischen Lehre bilden muss. Das war damals eine sensationelle Erkenntnis. Erst 42 Jahre später sollten sich der Vatikan und der Lutherische Weltbund in der Allgemeinen Erklärung zur Rechtfertigungslehre darauf verständigen, dass die Unterschiede in der Rechtfertigungslehre nicht mehr kirchentrennend sein müssen.
In den 1960er Jahren geriet Küng mit seinen Büchern "Die Kirche" und "Strukturen der Kirche" ins vatikanische Visier, weil er darin stärker kollegial und demokratisch ausgerichtete Leitungsstrukturen forderte. Doch Küng hatte stets einflussreiche Fürsprecher und so blieb er vorerst unbehelligt, auch wenn die Glaubenskongregation bereits 1968 ein erstes Verfahren gegen ihn eröffnete.
Linktipp: "Ich kämpfe weiter"
50 Jahre nach Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils schaut der Theologe Hans Küng mit gemischten Gefühlen zurück. Er nahm als junger Berater daran teil. Im Interview bemängelt Küng Kompromisse und wünscht sich eine Fortsetzung der Erneuerung.Doch dann kam 1970 im Schweizer Benziger Verlag ein Buch mit einem großen magenta-farbenen Fragezeichen auf schwarzem Grund und dem Wort "Unfehlbar" auf den Markt. Küng stellte darin die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage, wie sie das Erste Vatikanische Konzil hundert Jahre zuvor, unter bestimmten Voraussetzungen definiert und das Zweite Vatikanische Konzil bestätigt hatte, aber auch die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts im weiteren Sinne. Küng argumentierte, eine solche Unfehlbarkeit lasse sich weder aus der Bibel noch aus der Tradition herleiten. Außerdem verwies er auf päpstliche Entscheidungen in der Kirchengeschichte, die seiner Meinung nach offensichtliche Irrtümer waren.
Aktuelles Beispiel war für Küng die Enzyklika "Humanae vitae" von Paul VI. mit ihrem Verbot künstlicher Empfängnisverhütung. Aus Küngs Sicht lässt sich nur sagen, dass die Kirche insgesamt unverbrüchlich in der Wahrheit steht, einzelne päpstliche Entscheidungen sich aber sehr wohl als Irrtum entpuppen könnten. Etliche Theologen und auch Bischöfe waren damals nicht ganz glücklich mit der Unfehlbarkeits-Definition und verteidigten sie im privaten Kreis nur mit vielen einschränkenden "Wenn" und "Aber". Doch einen öffentlichen Frontalangriff gegen die päpstliche Unfehlbarkeit, wie Küng ihn jetzt eröffnete, hatte niemand zuvor unternommen.
Öffentliche Rüge
Daraufhin eröffnete die Glaubenskongregation ein weiteres Verfahren und rügte Küng 1975 öffentlich. Ungewöhnlich war jedoch, dass dieses Verfahren und auch das 1968 eingeleitete damit beendet waren und Küng weder zum Widerruf genötigt wurde noch seine Lehrerlaubnis verlor. Diese zunächst milde Reaktion des Vatikans wird oft der Vermittlung von Kardinal Julius Döpfner zugeschrieben, der Küng persönlich verbunden war und sich hinter den Kulissen offenbar für den Tübinger Theologen einsetzte.
Küng verzichtete zwar 1974 in seinem bekanntesten Werk "Christ sein", das zum weltweiten Bestseller wurde, auf eine Wiederholung seiner Kritik. Doch auch dieses Werk erregte Anstoß, weil er darin zur Beschreibung Jesus Christi konsequent den Titel "Gottes Sohn" vermied und ihn stattdessen unter anderem als "Sachwalter Gottes" bezeichnete. Dahinter stand Küngs Überzeugung, dass die Begrifflichkeit der griechischen Metaphysik von heutigen Christen kaum noch verstanden würde, nicht zum Wesenskern des Christentums gehöre und daher auch durch andere Umschreibungen ersetzt werden könne. Küng betonte in "Christ sein" sehr stark die menschliche Seite Jesu. Das brachte ihm den Vorwurf ein, er stelle die Göttlichkeit Jesu in Frage.
Zusammen mit einer erneuten Infragestellung der Unfehlbarkeit in weiteren Publikationen und seinen Aussagen zu Jungfrauengeburt und Eucharistie führte dies 1979 zum Entzug seiner kirchlichen Lehrerlaubnis durch den Vatikan. Öffentliche Kritik von katholischen Theologen am Vorgehen Roms gab es zunächst nur vereinzelt. Einer davon war der damalige Freiburger Dogmatik-Professor Karl Lehmann, der von einem "rabenschwarzen Tag" für die Theologie sprach. Bis heute ist immer wieder die These zu hören, dass es zu dieser Eskalation zwischen dem Vatikan und Küng möglicherweise nicht gekommen wäre, wenn Kardinal Döpfner nicht schon 1976 gestorben wäre und Paul VI. noch länger regiert hätte. Doch das bleibt Spekulation.
Küngs Leben nahm nach der römischen Maßregelung nicht den idealtypischen Verlauf einer Kirchenkritiker-Biographie. Andere prominente Theologen, die mit Rom in Konflikt geraten waren, wandten sich enttäuscht und verbittert von ihrer Kirche ab: Uta Ranke-Heinemann verabschiedete sich gleich ganz vom "traditionellen Christentum", Eugen Drewermann trat demonstrativ aus der Kirche aus und Leonardo Boff wollte nicht mehr länger Priester sein. Nicht so Küng, er blieb, was er war: ein katholischer Priester und Professor ohne kirchliche Lehrerlaubnis. Küng selbst sah sich stets als "loyaler Theologe", eine Einschätzung die allerdings nicht alle kirchlichen Amtsträger teilten.
Doch so hart Küng auch nach Entzug der Lehrerlaubnis mit dem gegenwärtigen Zustand der Kirche ins Gericht ging, ob es um Unfehlbarkeit, den Zölibat oder das Frauenpriestertum ging: Der Schweizer gab die Hoffnung nie auf, dass sich die Dinge in der Kirche doch noch in seinem Sinne entwickeln könnten.
An einer kirchlichen Anerkennung seines Wirkens lag dem äußerst selbstbewußten Schweizer mit einem ausgeprägtem Freiheitsdrang offensichtlich viel. So erklärt sich wohl auch, dass er schon bald nach der Wahl seines früheren Tübinger Professoren Kollegen Joseph Ratzinger zum Papst um ein Gespräch ersuchte. War diese Bitte schon bemerkenswert, so galt dies erst recht für die Zusage Benedikt XVI., der Küng im September 2005 zu einem vierstündigen Gespräch in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo empfing. Ebenjener Ratzinger, den seine Kritiker als Panzer-Kardinal verspotteten, nahm sich die Freiheit, einen Theologen zu treffen, dem sein von ihm hochverehrter Vorgänger Johannes Paul II., die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen hatte. Beide sprachen über den interreligiösen Dialog und das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft, wie man der vatikanischen Mitteilung über die Begegnung entnehmen konnte, die nach Küngs Darstellung Benedikt XVI. höchstpersönlich verfasste. Ob Küng und Ratzinger auch über die Kontroversen der Vergangenheit sprachen, bleibt Spekulation. In der Öffentlichkeit wurde das Treffen an sich schon als eine Art Rehabilitierung Küngs gedeutet.
„"Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen"“
Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis erhielt Küng einen fakultätenunabhängigen Lehrstuhl für ökumenische Theologie an der Universität Tübingen, wo er seit 1960 an der katholisch-theologischen Fakultät gelehrt hatte. In seiner neuen Rolle widmete er sich allem dem Dialog zwischen den Religionen und gründete hierzu die Stiftung "Weltethos". Küng sieht das Weltethos als "ethisches Koordinatenkreuz", dessen Grundlage die goldene Regel bildet "Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu". Küng warb mit beachtlicher Resonanz bei Staatsmännern, Religionsführern und Unternehmern für seine Idee. Hierbei kam ihm das zugute, was ihm auch früher als Theologe bereits sehr geholfen hatte: dass er komplexe religiöse und theologische Sachverhalte auch für Nichtfachleute und Außenstehende allgemeinverständlich erklären kann.
Informell rehabilitiert?
Trotz der vielversprechenden Begegnung zu Beginn der Amtszeit von Benedikt XVI. sparte Küng in den folgenden Jahren nicht mit Kritik an seinem früheren Tübinger Professoren-Kollegen auf dem Stuhl Petri. Mit dem Papsttum versöhnt wurde er offenbar erst durch Franziskus. Dem ersten lateinamerikanischen Papst schrieb Küng kurz nach dessen Wahl einen Brief und erhielt zu seiner großen Freude einen "handgeschriebenen, brüderlichen Brief" als Antwort. Durch diese Korrespondenz betrachtete sich Küng zum Ende seines Lebens als "quasi informell" rehabilitiert, wie er selbst sagte. Eine öffentliche Rehabilitierung durch Rom sei ihm "nicht so wichtig". Es gehe darum, dass es für die Menschen und für die Kirche vorangehe.
Mehr Genugtuung als ein freundliches Schreiben aus der Glaubenskongregation bereiten ihm vermutlich Szenen, wie jene, die sich am 26. November 2015 in Kenias Hauptstadt Nairobi zutrug: An diesem Tag wurde Papst Franziskus vom obersten Repräsentanten der Muslime in Kenia empfangen – mit einem Küng-Zitat: "Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen". Das hätte sich der Tübinger Theologe 1979 wohl noch weniger träumen lassen, als dass seine frühere katholische Fakultät in Tübingen Mitveranstalter einer Konferenz zu seinem 90. Geburtstag war. "Theologie im Aufbruch" lautete ihr Titel.
Dieser Text wurde erstmals 2018 zum 90. Geburtstag von Hans Küng veröffentlicht. Anlässlich von Küngs Tod wurde der Artikel aktualisiert.