Der zweite Mann der Kirche
Laut weit verbreiteter Fachmeinung gehört Joseph Ratzinger als emeritierter Papst nicht mehr dem Kardinalskollegium an. Demnach sei er mit der Wahl zum höheren Papstamt automatisch aus dem Dienst als Kardinal entlassen. Doch es gibt auch jene, die sagen, dass Ratzinger nach seiner Zeit als Papst wieder in Rot auftreten solle. Denn in ihren Augen ist die Kardinalswürde nicht verloren gegangen und lebe nach Erledigung des Papstamtes wieder auf. Noch ist die Frage nicht entschieden, zumal es bislang auch keine rechtliche Regelung gibt.
Ratzinger folgt Döpfner als Erzbischof nach
Geht man jedoch davon aus, dass Joseph Ratzinger weiterhin dem Kirchensenat angehört, wäre er heute dessen dienstältestes Mitglied: Keiner der lebenden Kardinäle wurde früher kreiert. Er ist zudem der letzte von ihnen, der noch von Papst Paul VI. solche Ehren erhielt. Doch erst unter dessen Nachfolger Johannes Paul II. sollte der Bayer die wichtigen Karriereschritte bis an die Spitze der kirchlichen Hierarchie machen. Über ein Vierteljahrhundert hinweg bildeten die beiden das zentrale Gespann im Vatikan.
Schon vor seiner Bischofsweihe hatte Ratzinger als Theologe eine imposante Laufbahn beschritten. Die Vermutung liegt nahe, dass er auch ohne den späteren Wechsel in den Vatikan heute als bedeutende Figur der jüngeren Kirchengeschichte gehandelt würde. Doch im März 1977 brachte ihn Paul VI. um seinen Lebenstraum als Professor zu wirken, wie Ratzinger im Gespräch mit dem Journalisten Peter Seewald später erklärte: "Aber man weiß auch, dass man nicht den Träumen nachleben darf." Und so übernahm er im Mai desselben Jahres als Nachfolger des früh verstorbenen Konzilsvaters Julius Döpfner das Erzbistum München und Freising. Und ähnlich seinen Wirkungsorten als Hochschullehrer – immerhin fünf in nur zwei Jahrzehnten – war auch die bayerische Landeshauptstadt für Joseph Ratzinger nur eine kurze Zwischenstation.
Nachdem sich der Professor zuvor gegen die Berufung ins Bischofsamt gesträubt hatte, fiel es dem nunmehrigen Erzbischof Joseph Ratzinger mindestens ebenso schwer, den nächsten Auftrag anzunehmen. Nach nur viereinhalb Jahren wollte der neue Papst Johannes Paul II. ihn so dringend in seiner Nähe wissen, dass Ratzinger keine Wahl mehr blieb, als den Ruf an die Glaubenskongregation anzunehmen. Zuvor habe er sich noch erfolgreich um die Leitung der Kongregation für das Bildungswesen drücken können, berichtete er später.
"Cooperatores veritatis – Mitarbeiter der Wahrheit"
Über 27 Jahre war Ratzinger bis zu seiner Papstwahl Kardinal, davon ab dem 1. März 1982 gut 23 Jahre an der Spitze der Kongregation für die Glaubenslehre. Selbst nach den auf Langfristigkeit angelegten Maßstäben der Kirche ist das eine Ära; und nach dieser weist Joseph Ratzinger eine beeindruckende Bilanz auf.
Beeindruckend deshalb, weil Ratzinger in seiner Aufgabe als zweiter Glaubenshüter nach dem Papst stets unbeirrt von aktuellen Befindlichkeiten auf die ihm überzeitlich geltende Wahrheit des Lehramts blickte. Damit hielt er sich treu an seinen bischöflichen Wahlspruch: "Cooperatores veritatis – Mitarbeiter der Wahrheit". So findet man heute beim Rückblick auf Ratzingers Wirken unweigerlich vor allem eines: hart geführte Debatten um heikle Sachfragen mitsamt unliebsamer Entscheidungen. Stets in enger Zusammenarbeit mit Johannes Paul II. – dem er selbst zur Papstwahl verholfen hatte – stand der Glaubenspräfekt unter anderem für eine Absage an die Befreiungstheologie, den Ausstieg der deutschen Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung und den eng gefassten Kirchenbegriff von "Dominus Iesus". Themen, die Ratzinger den Ruf vom "Panzerkardinal" einbrachten.
Ein zweiter, genauerer Blick auf die Geschichte relativiert diese Zuordnung jedoch. Denn Ratzinger hatte nicht nur an Manifestationen, sondern auch an wichtigen Fortentwicklungen des Lehramts großen Anteil. Zu nennen ist etwa die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre", ein Meilenstein im ökumenischen Dialog. Mit zahlreichen Äußerungen seiner Kongregation und schließlich mit dem ersten weltweiten Katechismus trug er zudem wesentlich zur Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils bei. Und nicht zuletzt prägte Ratzinger die Kirche auch durch den Ausfluss eines persönlichen Privilegs, das er seinem großen Förderer Johannes Paul II. abgetrotzt hatte: weiterhin als Theologe veröffentlichen zu dürfen, was damals für Kurienmitarbeiter nicht selbstverständlich war.
27 Jahre, 9 Monate und 23 Tage als Kardinal
Die großen Debatten machten Ratzinger während des Wojtyla-Pontifikats zum zweiten Gesicht der katholischen Kirche. Und es blieb nicht bei der öffentlichen Rolle des Alter Ego, auch innerhalb des Kardinalskollegiums stieg der Bayer stetig auf. Nachdem er ursprünglich als Kardinalpriester in die mittlere Klasse des Kollegiums aufgenommen wurde, beförderte ihn der Papst im Jahr 1993 zum Kardinalbischof. Fünf Jahre später wurde er Subdekan und wiederum vier Jahre darauf, im Jahr 2002, Dekan des Kardinalskollegiums. Damit hatte er das zweithöchste Amt der Kirche inne.
Mit der Wahl zum Vorsitzenden des Kardinalskollegiums war auch besiegelt, was Papst Johannes Paul II. ihm bereits Monate zuvor mit der Ablehnung seines neuerlichen Rücktrittsgesuchs gezeigt hatte: So bald würde Joseph Ratzinger nicht in den Ruhestand gehen. Schließlich waren es noch knapp zweieinhalb Jahre, die der Kardinaldekan als zweiter Mann an der Spitze der Kirche stand. Am 19. April 2005 wurde ein neuer Papst gewählt und Joseph Ratzinger beendete nach 27 Jahren, 9 Monaten und 23 Tagen seinen Dienst als Kardinal.