"Die eigene Religion nicht absolut setzen"
Frage: Frau Schavan, Sie werden am Mittwochabend im Münsteraner Dom über die "Freiheit des Glaubens" sprechen. Aber bedeuten Glaube und Religion nicht eher persönliche Unfreiheit und Unterdrückung von Nicht- und Andersgläubigen?
Schavan: Nein, das eben ist nicht gemeint, wenn wir unser Verständnis als Christen beschreiben. Wer sich mit den Schriften der Bibel beschäftigt, wird sehen, dass es darin oft um Befreiung geht. Besonders Jesus fordert die Menschen immer wieder auf, sich von den Dingen zu befreien, die einen beeinträchtigen und davon abhalten, sich mit Gott zu beschäftigen. Bei Paulus heißt es schließlich sogar "Ihr seid zur Freiheit berufen". Aber auch im Alten Testament spielt das Thema eine große Rolle – etwa bei der Befreiung des Volkes Israel aus dem babylonischen Exil. Mein Vortrag steht deshalb auch unter dem Motto "Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei". Das Zitat aus dem Dank-Psalm 124 bezieht sich auf dieses Ereignis. Der Satz kann auch heute auf die vielen Situationen übertragen werden, in denen Menschen keine Kraft und Hoffnung hatten, bis die rettende Hand Gottes sie befreite.
Frage: Sie haben gerade Paulus zitiert. Welche Erfahrung macht das Christentum mit dieser Berufung zur Freiheit?
Schavan: Ich will auf Historisches und auf das Heute eingehen. Es gibt die – auch schweren – Erfahrungen des Christentums in der Geschichte Europas, die aber am Ende zur Religionsfreiheit geführt haben. Die vielleicht wichtigste ist nach jahrzehntelangen konfessionellen Religionskriegen die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik. In der Unterscheidung liegt die Kraft der Freiheit. Der Staat kann sich konstituieren, sodass ein friedliches Miteinander von Menschen verschiedener Religionen oder ohne Glauben möglich wird. Zwei wichtige christliche Freiheitsereignisse des 20. Jahrhunderts waren die volle Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil und der konsequente Einsatz von Christen, die mit Kerzen und Gebeten die Mauer zu Fall gebracht haben.
Heute leben wir dagegen in einer religiös-pluralen Gesellschaft. Die Aufgabe, diese zu gestalten, ist sehr anspruchsvoll. Eine Voraussetzung dafür ist die religiöse Bildung. Sie hilft, die eigene Religion nicht absolut zu setzen und die andere nicht zu bekämpfen, sondern durch Wissen über das "Eigene" zum Dialog mit Andersglaubenden bereit zu sein. Auch die islamische Theologie an Universitäten ist ein wichtiges Instrument für Aufklärung und Dialog. Es braucht zudem global wieder ein größeres Bewusstsein dafür, dass Religion nicht einfach Privatsache und weniger wichtig geworden ist.
Frage: Wie ist es im Alltag einer Politikerin, wenn die Glaubensfreiheit auf politische Zwänge trifft?
Schavan: Für Politiker heute ist es wichtig, dass sie sensibel für Überzeugungen von Bürgern sind. Und eine der Quellen für Überzeugungen ist die Religion. Die Politik muss deshalb aufmerksam zuhören, was für die Menschen von Bedeutung ist und beurteilen, wie dies am sinnvollsten in die Entwicklung der Gesellschaft eingehen kann. Eines muss aber immer klar sein: Welcher Religion man auch angehört, Grundvoraussetzung für jeden Bürger ist, dass das Grundgesetz für jeden gilt. Die Religion darf nicht als Konkurrenz oder Alternative zu einer weltlichen Ordnung gesehen werden.
Frage: Und wenn man als Politiker in den Konflikt kommt, dass der Glaube einen anderen Weg verlangt als den, den die eigene Partei einschlagen will?
Schavan: Dann gilt der Grundsatz: "Jeder Abgeordnete ist seinem Gewissen verpflichtet."
Frage: Welche Freiheiten beziehungsweise Handlungsspielraum haben Sie als deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl?
Schavan: Die Aufgabe ist einerseits wie bei anderen Botschaftern das Übersetzen und Erklären. Andererseits ist es schon etwas Besonderes, dort Botschafterin zu sein, wo es mit den Päpsten in der Neuzeit eine große Geschichte des Einsatzes für die Freiheit des Glaubens gibt. Dazu zählen etwa Besuche von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und in wenigen Wochen auch von Franziskus auf Kuba. Johannes Paul II. hat bereits 1998 gesagt, dass der Staat weder mit dem Atheismus noch mit einer bestimmten Religion Politik machen dürfe. Die Kirche als Ganzes setzt sich für die Wertschätzung und den Respekt für den Glauben ein.
Frage: Versuchen Sie, im Vatikan auch die Haltung der Katholiken in Deutschland zu erklären, die dort manchmal auf Unverständnis stößt?
Schavan: Selbstverständlich. Es gehört dazu, das, was in einem Land an Standpunkten und Entwicklungen da ist, in die Gespräche einzubringen. Allerdings bin ich nicht die Botschafterin der Katholiken in Deutschland, sondern aller Bürgerinnen und Bürger. Trotzdem gehört es zu meiner Aufgabe, zu erklären, was sich in Deutschland tut, was auch den Christen wichtig ist und wie wir als Land der Reformation religiöse Pluralität praktizieren. In deutschen Großstädten gibt es viele gute Beispiele für den Dialog der Religionen und die Wertschätzung verschiedener Glaubensrichtungen. Das bringen wir in Gesprächen mit Vatikanvertretern aber auch an den Päpstlichen Universitäten ein. Denn Katholiken weltweit haben Interesse an einem Dialog mit den auf Abraham zurückgehenden monotheistischen Religionen.
Frage: Wurden sie auch angefragt, die Positionen zu den Familienthemen, die in der Bischofssynode im Herbst diskutiert werden, zu erläutern?
Schavan: Die Haltung der deutschen Katholiken und der Bischofskonferenz wird in erster Linie von den drei deutschen Bischöfen vertreten, die an der Synode teilnehmen. Die Botschaft ist dann der Ort, an dem sich die Synodenteilnehmer und diejenigen, die sich mit den Themen beschäftigen, treffen können. Es ist ein Ort der Begegnung, des Gedankenaustausches und der Impulse.