Ein Berg, drei Religionen
Der Tempelberg, arabisch al-Haram aš-Šarīf, ist für Juden, Christen und Muslime eine heilige Stätte, die immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen ist. Der Tradition nach erbaute König Salomo auf diesem Gelände den sogenannten Ersten Tempel, nachdem David den Platz von einem Jebusiter erworben hatte. Mit dem Zion, wie der Tempelberg auch genannt wird, verbinden sich mythische Traditionen:
Der Tempel bildet das symbolische Zentrum der Welt und stellt eine Verbindung von irdischer und himmlischer Sphäre her. Gott wohnt auf dem Zion und verteidigt ihn gegen Feinde. Diese Vorstellung sah man bestätigt, als Jerusalem 701 vor Christus der Eroberung durch neuassyrische Truppen bewahrt wurde. Umso tiefer war die Erschütterung, als 586 vor Christus die Neubabylonier Jerusalem eroberten, die Oberschicht ins Exil deportierten und den Tempel zerstörten. Die Reflexion auf dieses Ereignis legte die Basis für die Entfaltung des Monotheismus und die Entwicklung des Judentums zu einer Buchreligion.
Der Tempel konnte nach dem Exil unter persischer Herrschaft wieder errichtet werden, wenn auch bei weitem nicht so prächtig wie zuvor. Nun setzte sich durch, dass es nur einen legitimen Tempel für Israel geben sollte.
Nach der Eroberung des Vorderen Orients durch Alexander den Großen wurde auch der Tempelkult an der vorherrschenden griechischen Kultur ausgerichtet, sogar ein Kult für Zeus-Olympios wurde im Tempel eingerichtet. Dies stellte für viele ein Greuel dar, das durch die makkabäische Revolte beseitigt wurde. An die Wiedereinweihung des Tempels 164 vor Christus erinnert noch heute das Chanukka-Fest.
Zentrales Element frühjüdischer Identität
Ab dieser Zeit entwickelte sich ein umfangreiches Wallfahrtswesen. Die große Zahl der Pilger erforderte und ermöglichte die Erweiterung und Neugestaltung des Tempelareals unter Herodes dem Großen, der damit um 20 vor Christus begann. Der herodianische Tempel galt als besonders prachtvolles Gebäude.
Der Tempel ermöglichte die notwendigen kultischen Vollzüge und stellte ein zentrales Element frühjüdischer Identität dar. Aus der Diaspora bestanden vielfältige Beziehungen zum Jerusalemer Tempel. Mit ihm verbanden sich auch endzeitliche Vorstellungen. Neben der zentralen theologischen hatte der Tempel eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Bedeutung. Seine Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 nach Christus war eine Katastrophe. In der Folge setzte sich die Strömung der Pharisäer durch, für die die Tora-Auslegung nicht an den Tempel gebunden war. Heute ist die Klagemauer als zugängliches Überbleibsel des Tempels für viele Juden von großer Bedeutung.
Grabeskirche für Christen bedeutsamer als Tempelberg
Für die Christen ist der Tempel als Schauplatz von Ereignissen aus dem Leben Jesu wichtig: Jesus ist zu den Wallfahrtsfesten in Jerusalem, die letzten Tage spielen im Umfeld des Tempels. Die sogenannte Tempelreinigung nährt eine gewisse skeptische Haltung. Dennoch nahmen einige der frühen Christen weiterhin am Tempelkult teil. Die Zerstörung bereitete theologisch weniger Probleme, denn die Gottesgegenwart in Christus trat nun an die Stelle von Tempel und Kult.
In späterer Zeit suchten christliche Pilger die heiligen Orte auf, wie im 4. Jahrhundert Helena, die Mutter Kaiser Konstantins. Bedeutsam ist der Ort der Grablege Jesu, und so ist die Grabeskirche für die verschiedenen christlichen Konfessionen letztlich wichtiger als der Tempelberg. Nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer wurde der Felsendom im 12. Jahrhundert zum Templum Domini, zum Tempel des Herrn erklärt. Doch bereits 1187 fiel Jerusalem wieder in muslimische Hand.
Heilige Stätte des Islam
Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus bestand trotz mehrfacher Versuche, den Tempel wieder aufzubauen, kein Sakralbau auf dem Gelände, das dem Verfall überlassen war. Erst mit der Eroberung Jerusalems durch die Muslime änderte sich die Situation. Kalif Omar, der 638 nach Christus in Jerusalem einzog, initiierte die Restaurierung der herodianischen Plattform. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts wurde mit der Errichtung einer bedeckten Moschee sowie des Felsendoms begonnen, dessen Bau die Grabeskirche imitiert. Ab dem 8. Jahrhundert brachte man die nächtliche Himmelsreise Mohammeds mit diesem Ort in Verbindung: Mohammad sei auf seinem Reittier al-Buraq von Jerusalem in den Himmel entrückt worden, wo er Offenbarungen empfangen habe, und sei noch in derselben Nacht nach Mekka zurückgekehrt. Jerusalem wurde zur drittwichtigsten heiligen Stätte des Islam nach Mekka und Medina.
Besitzansprüche auf allen Seiten
Während auch die ganze Anlage als al-Masdschid al-Aqsa, die ferne Moschee, bezeichnet wird, bezieht sich der Name al-Aqsa zumeist auf die Versammlungshalle im Süden. Der verbreitetste arabische Name des Areals ist al-Haram aš-Šarīf, der erhabene heilige Bezirk. Hingegen ist "Tempelberg" eine jüdisch-christliche Bezeichnung, die von manchen Muslimen bereits als Besitzanspruch verstanden wird.
Die Empfindlichkeiten sind auf allen Seiten groß: Der Besuch Ariel Scharons auf dem Tempelberg im September 2000 löste die Zweite Intifada aus. Die Baumaßnahmen der Waqf-Behörde stehen unter dem Vorwurf, archäologische Beweise für die Existenz des Tempels zu vernichten. Bei manchen Muslimen schüren archäologische Grabungen um den Tempelberg Befürchtungen, dieser solle zerstört werden. Immerhin will eine Minderheit einen dritten jüdischen Tempel errichten.
Von Oliver Dyma