Ein Traum wird zur Lebensaufgabe
Doch Clara musste feststellen, dass Unterricht allein nicht genügte. Ein neues Zuhause für gefährdete Straßenkinder musste geschaffen werden. Die "frommen Fräuleins" weihten sich ganz ihrer großen Idee: Sie gründeten am 2. Februar 1844 die Gemeinschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesus.
Aachen war damals "Boomtown" der Industrialisierung. Zählte die Stadt im ausgehenden 18. Jahrhundert bloß 24.000 Einwohner, so hatte sie im Todesjahr von Clara Fey, 1894, die 100.000er-Marke längst überschritten. Tuchproduktion und Metallverarbeitung blühten. Nur drei Jahre nach London, 1817, brannten in Aachen die ersten Gaslaternen. Aber wo viel Licht flirrt, fällt auch tiefer Schatten: die Verelendung der Massen. Clara wuchs in den großbürgerlichen Verhältnissen einer Fabrikantenfamilie auf. Doch sie lernte schon früh die Nöte der Industriearbeiterschaft kennen, besonders die der Kinder.
Schulpflicht nur auf dem Papier
Kinderarbeit mit menschenverachtenden Hungerlöhnen und Arbeitsbedingungen wie heute in Entwicklungsländern war unerlässlich, um gegen die englische Konkurrenz zu bestehen - so die Fabrikanten. Die Schulpflicht stand noch weitgehend auf dem Papier. Der sozial und politisch engagierte Arzt Heinrich Hahn, Begründer des Missionswerks missio in Aachen, hatte Einblick in das Elend, vor allem in die Wohnungsnot. Anlässlich der "Sonntagsgespräche", die Claras früh verwitwete Mutter in ihrem Haus abhielt, berichtete er davon: Bei Krankenbesuchen habe er "bis zu drei Familien in einem einzigen Zimmer gesehen, in welchem Kreidestriche am Boden die Grenzen der drei Wohnungen bezeichneten".
Im Revolutionsjahr 1830 begehrten die verzweifelten Textilarbeiter auf - auch das blieb nicht ohne Eindruck auf Clara. Wie ließen sich die Klassengegensätze entschärfen, zu einer Zeit, als die öffentliche Hand für Sozialpolitik noch kein Geld hatte? Wie die Not mildern, nachdem die Orden im Sturm der Säkularisation weitgehend untergegangen waren? Ein Vorbild für Clara wurde ihre Lehrerin Luise Hensel. Sie war nicht nur Dichterin feinsinniger Gebete wie "Müde bin ich, geh' zur Ruh", sondern engagierte sich auch sozial. Als 1832 die Cholera wütete, organisierte sie Hilfe und pflegte Kranke. Aus Hensels Schule gingen drei Ordensgründerinnen hervor: neben Clara Fey deren Freundinnen Franziska Schervier und Pauline von Mallinckrodt, die alle aus begüterten Familien stammten und Sozialorden stifteten.
Clara Fey eröffnet eine Armenschule
Während der Sonntagsgespräche tauchte eine Idee auf: "Wir wollen ein Schülchen anfangen!" Clara Fey und ihre Freundinnen machten ernst, realisierten das Projekt Armenschule. Die junge Frau wuchs - mit der Schulbildung einer "höheren Tochter", aber ohne tiefere theologische Kenntnisse - in die Rolle der Oberin hinein, beraten von ihren geistlichen Freunden. Im Laufe der Jahre mauserte sich der Freundinnenkreis zu einer klösterlichen Gemeinschaft mit der Aufgabe, verwahrlosten Mädchen zu Schulbildung und religiösem Halt, kurzum zu einem menschenwürdigen Platz in der Gesellschaft zu verhelfen. Ihr Herzensanliegen verteidigte Fey: "Die Erziehung der Reichen" sei kein Ordenszweck.
Im Revolutionsjahr 1848, das die staatliche Kirchenhoheit wegfegte, fiel der Startschuss für das rasante Wachstum der Schwestern vom armen Kinde Jesus, nun offiziell als Kongregation von staatlicher und bischöflicher Seite anerkannt. Die Oberin, einfach "Mutter" genannt, gründete nach und nach 27 Niederlassungen mit fast 600 Nonnen, bis 1872 alle Lehrorden im Kulturkampf aus den öffentlichen Schulen verdrängt wurden. Eine bittere Prüfung für den jungen Orden, der unterdes auch die päpstliche Anerkennung erhalten hatte. Im September 1878 siedelte Mutter Clara in die Niederlande über, nachdem alle Lehrorden Preußen hatten verlassen müssen, ausgenommen der Konvent in Aachen-Burtscheid, wo alte und kranke Schwestern gepflegt wurden.
Von den Niederlanden aus nach ganz Europa
Gleich hinter der Grenze im niederländischen Simpelveld leitete Clara Fey die Ausbreitung ihrer Kongregation in Europa. Im neuen Mutterhaus empfing sie Besucher wie den ins Exil getriebenen Kölner Erzbischof Paul Melchers. Mutter Clara erlebte noch, wie die "Kulturkämpfer" wieder zu Vernunft kamen und ihre Schwestern nach Preußen heimkehrten.
Die imposante Lebensleistung hat sie ihrer eher bangen Natur in Gottvertrauen abgerungen. Ihre Schwestern lehrte sie, spirituelle Kraft im unscheinbar Verborgenen zu suchen: Sie beeindruckten weniger Jesu Wunder im Flutlicht seines öffentlichen Wirkens als das geduldige Leben des Gottessohns im engen Pflichtenkreis seiner Familie, "verborgen im kleinen Hause von Nazaret".
Von Anselm Verbeek (KNA)