Fünf Tücher, ein Antlitz Gottes?
Die prominenteste unter ihnen ist zweifellos das Grabtuch von Turin. Doch den Anspruch, das wahre Antlitz Jesu Christi zu zeigen, erheben noch weitere Textilien; genauer gesagt tun das die Gläubigen, die diese Tücher seit Jahrhunderten verehren. Gemein ist ihnen eines: Die Wissenschaft konnte bislang weder ihre Echtheit bestätigen noch sie zweifelsfrei als Fälschung entlarven. Vielmehr geben ihre Entstehung, ihre Herkunft oder auch ihr Verbleib bis heute Rätsel auf. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass sich zwischen den textilen Christus-Reliquien ein Zusammenhang herstellen lässt und sie sich gegenseitig nicht zwingend ausschließen müssen; auch, wenn zwischen den jeweiligen Anhängern bis heute eine gewisse Konkurrenz herrscht.
Das Grabtuch von Turin
4,36 Meter lang, 1,10 Meter breit. Darauf der Abdruck eines Mannes von 1,81 Meter Größe, von kräftiger Statur, mit langen Haaren und Bart. Sein Leib weist deutliche Anzeichen von Folter und Kreuzigung auf. Kaum eine Reliquie fasziniert die Gläubigen so sehr wie das mögliche Grabtuch Jesu, das seit 1578 im Turiner Dom aufbewahrt wird. Das Negativbild eines Fotos brachte 1898 die Welt zum Staunen: Auf dem Grabtuch zeichneten sich deutlich die Gesichtszüge eines Mannes im mittleren Alter ab – das Negativ zeigte somit wesentlich mehr als den blassen Abdruck, den das bloße Auge auf dem Tuch sehen kann. Dieses Foto markierte den Beginn der wissenschaftlichen Erforschung.
Ein Schock für viele Befürworter der Echtheit dann die Radiokarbonuntersuchung im Jahr 1988: Drei Forschergruppen kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass das Grabtuch aus der Zeit zwischen 1260 und 1390 stammt. Eine Fälschung aus dem Mittelalter? Nein, meinen Wissenschaftler wie Giulio Fanti von der Universität Padua. Das Grabtuch sei nach Brandschäden im Mittelalter mit Stoffflicken restauriert worden. Diese hätten das Ergebnis verfälscht. Fanti kam nach einer eigenen Untersuchung zu dem Schluss, dass das Leinen mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit aus der Zeit um 33 vor Christus stammt – Abweichungen möglich. Pollenspuren auf dem Tuch, Material und Fertigungsart sollen das belegen.
Fanti betont, dass sich das Abbild auf dem Tuch mit seinen außergewöhnlichen Eigenschaften bis in die Gegenwart nicht wissenschaftlich reproduzieren lässt. Fälschung also ausgeschlossen? Die Kirche hat bis heute keine Stellung zur Echtheit bezogen. Auch wenn die Päpste sich wertschätzend über das Leinen geäußert haben und nach Turin gepilgert sind, gilt es im strengen Sinn nicht als Reliquie. Allerdings gilt es als das besterforschte Stück Stoff überhaupt. Jüngste Untersuchungen förderten Erstaunliches zutage: Auf dem Tuch finden sich Abdrücke kleiner Münzen, die Forscher auf das Jahr 29 – in die Zeit des Pontius Pilatus – datiert haben. Der Krimi um das Grabtuch geht weiter.
Der Schleier von Manoppello
Im Gegensatz zum Turiner Grabtuch, das nur selten öffentlich gezeigt wird, ist 700 Kilometer südlich in den Abruzzen eine textile Reliquie permanent ausgestellt: das "Volto Santo" oder der Schleier von Manoppello. 17,5 Zentimeter breit und 24 Zentimeter hoch ist das Tuch, das seit dem 17. Jahrhundert in der Kapuzinerkirche der kleinen italienischen Stadt aufbewahrt wird. In einem doppelseitig verglasten Reliquiar über dem Altar offenbart sich dem Betrachter ein Abbild, das wesentlich deutlicher zu erkennen ist als das von Turin. Auch das Gesicht in Manoppello weist Wunden wie von einer Folterung auf, doch es erscheint plastischer, lebendiger als auf dem Grabtuch.
Wie das Gesicht, das durch den feinen Stoff beidseitig zu sehen ist, auf den Schleier kam, erscheint ähnlich mysteriös wie im Fall Turin. Anhänger vermuten als Material Muschelseide – ein kostbarer Stoff aus dem Drüsensekret verschiedener Muschelarten, der nicht bemalt und nur sehr schwer gefärbt werden kann. Sollte das Bild in dem Fall künstlich hergestellt worden sein, kennt die Kunstgeschichte nichts Vergleichbares. Also das wahre Antlitz Jesu? Der Schleier wurde in der Geschichte verschieden gedeutet. Prominent ist die Erklärung als Schweißtuch, das im Grab auf dem Gesicht Jesu lag und das im Johannesevangelium Erwähnung findet (Joh 20,3-7). Problematisch an der Theorie: Das Abbild auf dem Schleier müsste eigentlich verzerrt erscheinen, hätte es auf dem Gesicht eines Toten gelegen.
Manoppello und Turin: In beiden Fällen sind Herkunft und Aufenthaltsort der Textilien vor dem Mittelalter ungeklärt. Ebenso die Entstehung. Und obwohl zwischen beiden Tüchern – besser: ihren Anhängern – in der Geschichte eine gewisse Konkurrenz herrschte, haben sie noch mehr gemeinsam: Der deutsche Journalist und Buchautor Paul Badde will durch "digitales Übereinanderlegen" herausgefunden haben, dass die Abbilder deckungsgleich sind und somit dasselbe Gesicht zeigen. Sie müssen sich somit keineswegs ausschließen, zumal der Evangelist Johannes auf mehrere Textilien im Grab Jesu hinweist: Neben dem Schweißtuch – möglicherweise Manoppello – lagen die Leinenbinden – vielleicht Turin.
Das Schweißtuch der Veronika
Biblisch zu belegen ist dieses Schweißtuch nicht, doch war es einst die meistverehrte Reliquie der Christenheit. Die Geschichte von Veronika, die Jesus auf seinem Leidensweg das Tuch reicht, ist erst seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar; die Ursprünge der Legende liegen jedoch im apokryphen Nikodemusevangelium. Der Name Veronika (eigentlich "die Siegbringerin") wurde volksetymologisch umgedeutet als Zusammensetzung aus "vera" (wahr) und "eikon" (Bild); dies verdeutlicht den Anspruch, auf dem Tuch sei tatsächlich das Antlitz Christi zu sehen. Seit dem achten Jahrhundert soll sich das Tuch in Rom befinden, wo es heute in einer Kapelle oberhalb des Veronikapfeilers im Petersdom aufbewahrt wird. Von dort wird es den Gläubigen einmal im Jahr, am zweiten Sonntag nach Erscheinung des Herrn, aus der Ferne zur Verehrung gezeigt.
Anders als beim Turiner Grabtuch und dem Schleier von Manoppello ist auf dem Schweißtuch der Veronika heute kein Gesicht mehr zu erkennen. Die Jahrhunderte haben ihre Spuren hinterlassen, sodass das Tuch heute wie schwarz gefärbt wirkt. Allerdings hatte schon Martin Luther nach einem Rombesuch darüber geklagt, dass auf dem Tuch nichts zu sehen sei. Als "klares Linnen vor einem schwarzen Brett" bezeichnete es der Reformator. Somit stellt sich die Frage: Wenn ein authentisches Schweißtuch der Veronika existiert, befindet es sich dann heute noch im Vatikan? Laut einer Theorie ist das Original nach dem Abriss der alten Petersbasilika verschwunden und wurde ersetzt. Laut einer anderen kam es nach Manoppello und wäre somit mit dem dortigen Schleier identisch.
Das Bluttuch von Oviedo
Die Kathedrale San Salvador im nordspanischen Oviedo beherbergt ein weiteres mögliches Schweißtuch Jesu. Das stark zerknitterte und verschmutzte Leinen ruht dort in einem Schrein und wird den Gläubigen dreimal im Jahr gezeigt: am Karfreitag, am Fest Kreuzerhöhung und am Fest des Apostels Matthäus. Ähnlich dem Veronika-Tuch im Vatikan ist auch auf dem Leinen von Oviedo ein Gesicht kaum zu erkennen; dunkle Flecken – möglicherweise Blut – deuten aber eines an. Im siebten Jahrhundert soll das Tuch von Palästina über den nordafrikanischen Raum nach Spanien gelangt sein. Ein Radiokohlenstofftest ergab zwar als Entstehungszeit das siebte Jahrhundert; diese seine Messung zweifelte Wissenschaftler Baima Bollone selbst jedoch später als möglicherweise fehlerhaft an.
Die Echtheit bleibt somit auch in Oviedo umstritten. Wie bei vielen Reliquien sollen von den Textilien, die mit Christus in Verbindung gebracht werden, zahlreiche Fälschungen angefertigt worden sein. Eine solche sehen Kritiker im Schweißtuch von Oviedo. Befürworter hingegen betonen, dass die sichtbaren Wunden auf dem Tuch mit denen des Turiner Leinens übereinstimmten, was ein Übereinanderlegen beider Abbilder ergeben habe. Auch müsse es nicht als Konkurrenz zu ähnlichen Reliquien wie dem Manoppello-Schleier oder dem Veronika-Tuch betrachtet werden. Das Oviedo-Schweißtuch könne nach der Kreuzabnahme Christi nur kurze Zeit um seinen Kopf gewickelt gewesen sein und wäre somit nicht identisch mit dem Schweißtuch im Grab aus dem Johannesevangelium.
Das Abgar-Bild
Das einzige Abbild, das zunächst nichts mit der Passion und Grablegung Jesu zu tun hat, ist das sogenannte "Abgar-Bild". Es weist unter den textilen Reliquien zwei Besonderheiten auf: Zum einen gilt das Tuch, das in der Spätantike und im Mittelalter in Edessa (Türkei) verehrt wurde, heute als verschollen. Zum anderen soll es Christus selbst angefertigt haben: Der Legende nach hatte der schwer erkrankte König Abgar von Edessa von den Wundertaten Jesu gehört und ihn in einem Brief um Heilung gebeten. Jesus soll ihm daraufhin Hilfe nach seiner Himmelfahrt zugesagt haben. Nach einer Version der Abgarlegende hat Jesus durch direkten Gesichtskontakt sein Abbild in ein Tuch eingeprägt. Dieses sei dem König überbracht worden, woraufhin er von seiner Krankheit geheilt war.
Historisch bezeugt ist die Existenz eines "Acheiropoieton", also "nicht von Menschenhand gemachten Bildes", in Edessa für das sechste Jahrhundert. Später kam es in die Kapelle des Kaiserpalastes von Konstantinopel, bevor es während der Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 verschwand. Eine angebliche Kopie befindet sich heute im Vatikan. Das vermeintliche Abbild Christi auf dem Abgar-Bild ist zudem auf zahlreichen Ikonen zu sehen. Manche Wissenschaftler vermuten heute, dass das originale Leinen mit dem Grabtuch von Turin identisch ist. Die Zeitpunkte, an denen das eine verschwand und das andere erstmals auftauchte, könnten darauf hindeuten. In diesem Fall wäre das Grabtuch in Edessa so gefaltet gewesen, dass dort lediglich das Antlitz Christi – und nicht der gesamte Körper – zu sehen war.