"Gerührter Quark"
"Darüber sind wir in der Diskussion längst hinweg. Gerade die Opferverbände warnen vor solch einem Automatismus", so der Pater, der 2010 als Rektor am Berliner Canisius-Kolleg die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ins Rollen gebracht hatte.
Für einen staatlichen Ermittler stehe die Unschuldsvermutung zugunsten eines mutmaßlichen Täters an erster Stelle, führte Mertes zur Begründung aus. "Das heißt, er muss die Angaben der Opfer zunächst einmal bezweifeln." Vor diesem Moment und dem anschließenden Verfahren hätten jedoch viele Betroffene Angst. "Aber das sieht der UN-Bericht in seiner Naivität nicht."
Das Kinderrechtekomitee hatte in einem am Mittwoch veröffentlichten Report den Umgang der katholischen Kirche mit sexuellem Missbrauch von Minderjährigen als unzureichend bezeichnet. Der Heilige Stuhl habe "die Reputation der Kirche und den Schutz der Täter über die Interessen der Kinder gestellt". Der 16-seitige Bericht verlangt unter anderem mehr Transparenz und Nachbesserungen im Kirchenrecht. Er forderte zugleich Änderungen im Umgang der Kirche mit Homosexualität und Abtreibung.
Zentralisierung Teil des Problems beim bisherigen Umgang mit Missbrauchsfällen
Das Papier werfe alles in einen Topf, "was an Vorbehalten gegenüber der katholischen Kirche herumwabert", monierte Mertes. "Und wenn dann noch Themen wie Abtreibung oder Homosexualität in den Bericht einfließen, kommt endgültig gerührter Quark heraus." Einer zentralen Hotline für Missbrauchsopfer im Vatikan, wie die UN-Experten sie forderten, erteilte der Jesuit eine klare Absage. Zentralisierung sei ein Teil des Problems beim bisherigen Umgang mit Missbrauchsfällen gewesen. "Aber die UN haben die gleiche Wasserkopf-Denke wie der Vatikan selbst."
Trotz aller Mängel enthalte der Bericht allerdings "immer noch genügend berechtigte Kritik", betonte Mertes. An die Adresse des Vatikan gerichtet, der den Bericht in Teilen zurückgewiesen hatte, sagte der 59-jährige Pater, der inzwischen die Jesuitenschule Sankt Blasien im Schwarzwald leitet: "Ich warne davor, auf beleidigte Leberwurst oder verfolgte Unschuld zu machen."
Zugleich forderte Mertes vom Vatikan ein schärferes Vorgehen gegen Bischöfe, die Missbrauchsfälle vertuscht haben oder an einer Vertuschung beteiligt waren. Die Betroffenen sollten "ihr Amt verlieren oder zurücktreten". Stattdessen fehle es auch in Rom oft noch an der Bereitschaft, "sich dem Problem in seiner ganzen Tiefe zu stellen".
Deutsche Kirche leiste "Hervorragendes" bei der Prävention
Namentlich kritisierte der Jesuit Kurienerzbischof Gerhard Ludwig Müller, den Präfekten der Glaubenskongregation und künftigen Kardinal. Dieser rede immer noch von irgendwelchen "böswilligen Pressekampagnen" gegen die katholische Kirche und "tut so, als hätte es da halt ein paar böse Kleriker gegeben, aber sonst wäre in der Kirche alles in Ordnung und könnte so bleiben, wie es immer war".
In einer ausführlicheren Fassung des Interviews in der "Frankfurter Rundschau" lobte Mertes dagegen die katholische Kirche in Deutschland: Diese leiste "Hervorragendes" bei der Prävention und zum Teil auch bei der Aufklärung. "Was auf der mittleren Ebene - bei den Präventionsbeauftragten, Schulleitern, Kindergärtnerinnen, in Jugendverbänden - geschieht, ist erste Sahne. Da hat die Kirche in der Praxis die Nase so weit vorn, dass staatliche Stellen sie inzwischen um Beratung bitten, wie sie es mit der Prävention halten sollen."
Problematisch allerdings sei, so Mertes weiter, dass es immer noch Bistümer gebe, in denen die "Glaubwürdigkeit dieses Bemühens ständig von oben erschüttert" werde. Auch im Umgang mit den Tätern gebe es noch ungelöste Probleme, etwa wenn Opfer den Tätern immer noch in ihren Pfarrgemeinden begegneten. Das Kernproblem aber "ist und bleibt die Unabhängigkeit der Aufklärung und der Aufklärer". (KNA)