"Gewaltiger Druck lastete auf uns"
Frage: Altbischof Reinelt, Sie waren 1989 seit einem Jahr Bischof in Dresden. Wie haben sie den Beginn der Wende erlebt?
Joachim Reinelt: Es ging los als am 4. Oktober die Botschaftszüge durch Dresden fuhren. Ich bin an dem Tag auf dem Hauptbahnhof gewesen und habe mit den jungen Menschen gesprochen, die auf die Züge aufspringen wollten. Es war zu erkennen, dass es an dem Tag zu schlimmen Auseinandersetzungen kommen wird. Ich habe gesagt, bringt euch nicht um euer Leben. Ich bin von den jungen Leuten belehrt worden. Die sagten: "Wir sind die letzten, die hier rauskommen. Dann machen die euch sowieso alle fertig".
In dieser Stimmung waren die jungen Leute geradezu dazu gezwungen, alles zu riskieren. Da war eine junge Mutter mit einem Baby dabei. Ich habe versucht mir vorzustellen, was passiert, wenn die auf die fahrenden Züge aufspringen. Ich habe noch versucht mit der Polizei zu verhandeln. Aber schlussendlich ging es an diesem Tag ja ganz schrecklich zu. Ich konnte nicht dort bleiben, weil ich in Bautzen zur Messe zum Franziskusfest im Klarissinen-Kloster erwartet wurde. Wir haben dort für die Menschen im und um den Bahnhof gebetet.
Frage: Es war zu erwarten, dass das SED-Regime hart durchgreift?
Reinelt: Schon auf dem Weg nach Bautzen habe ich gesehen, wie mindestens zehn Lastwagen von der Volkspolizei-Schule aus Löbau nach Dresden fuhren. Da war mir klar, was dort passieren wird.
Frage: Warum eskalierte die Lage denn ausgerechnet im Sommer 1989?
Reinelt: Damals hat sich alles deshalb so zugespitzt, weil die DDR-Führung auf die Besetzung der Bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau völlig unsinnig reagiert hat. Nachdem man als DDR-Bürger ohnehin schon nicht nach Polen reisen durfte und die Ausreise nach Ungarn auch eingeschränkt worden war, sollte jetzt auch noch die Grenze zur Tschechoslowakei dicht gemacht werden. Da haben die Leute Panik bekommen und gesagt: "Lasst uns die letzte Chance nutzen". Sie wollten Freiheit, Gerechtigkeit und die Angst loswerden, wegen irgendeiner Kleinigkeit vom Staat verfolgt oder benachteiligt zu werden. Der wirtschaftliche Ruin der DDR war ja fast komplett. Die Menschen haben all das ja auch in ihren eigenen Schicksalen ertragen müssen. Sie hatten das alles einfach satt.
Frage: Die Botschaftsflüchtlinge waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?
Reinelt: Das war der Druck. Als einige die DDR verlassen konnten, fragten sich andere "Warum ich nicht auch"? Deshalb war Honeckers Idee, dass man die Botschaftsflüchtlinge einfach "rauslassen" könne und dann wieder Ruhe habe einfach eine große Selbsttäuschung. Man wollte einfach die Macht nicht aus den Händen geben.
Frage: Die katholische Kirche stand der Ausreise-Bewegung sehr kritisch gegenüber. Beim Katholikentreffen 1987 in Dresden hat Kardinal Joachim Meisner die DDR-Katholiken zum Bleiben aufgefordert.
Reinelt: Ich war als Bischof auch sehr daran interessiert, dass die Leute, die in den Westen wollten, möglichst hierbleiben. Diese Menschen waren eine Kraft, die diesen Ideologen etwas entgegen zu setzen hatten. Die große Masse in der DDR lief ja ohne geistigen Widerstand einfach mit. Und genau diesen geistigen Widerstand brauchten wir. Auf der anderen Seite gab es aber auch Situationen, in denen wir Menschen bei Familienzusammenführungen versucht haben zu helfen. Wenn es nur noch das eine Ziel "Weg von hier" gab, dann haben wir dafür Verständnis gehabt.
Frage: Zwei Kapläne haben eine besondere Rolle bei der Wende in Dresden gespielt.
Reinelt: Ja, das stimmt. Frank Richter und Andreas Leuschner haben die "Gruppe der zwanzig" bei der Demonstration am 8. Oktober zusammengestellt. Diese Gruppe von Bürgern hat erstmals die Forderungen der Bürger vorgetragen. Bei dem Gespräch bei Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer ging es dann auch um die Freilassung der Gefangenen. Bei dem Thema Reisefreiheit konnte Berghofer sich auch nur rausreden und sagen, dass das nicht seine Sache sei. Das Ergebnis war nicht befriedigend. Deswegen haben die Dresdener von an jeden Montag regelmäßig demonstriert.
Frage: In der Nacht wurde auch die Hofkirche von Demonstranten besetzt.
Reinelt: Ja, in der Nacht haben sich 40 bis 50 Leute in die Kathedrale geflüchtet. Die wollten dort warten bis sie die Ausreisegenehmigung bekommen. Das war ein gewaltiger Druck, der auf uns lastete. Wir mussten die Leute versorgen. In der Kathedrale gab es damals eine einzige Toilette und keine Heizung. Das war alles sehr schwierig. Die Leute sind dann mit einem Bus abgeholt worden und konnten ein paar Tage später in die Freiheit ausreisen. Vorher hatten sie aber noch nachweisen müssen, dass sie keine Schulden bei der Sparkasse haben.
Frage: Die Dresdener Kathedrale war also so etwas wie die westdeutschen Botschaften, nur mitten in Sachsen?
Reinelt: Das war nicht nur die Hofkirche. Auch in die Kreuzkirche hatten sich Ausreisewillige geflüchtet.
Frage: In Plauen gab es schon am 7. Oktober eine große Demonstration, von der bis heute außerhalb Sachsens kaum etwas bekannt ist. Was haben sie damals als Bischof an Informationen aus ihrer Diözese bekommen?
Reinelt: Ich war damals kurz nach dieser Demonstration in Plauen. Ich habe dort selber mit dem Kommandanten der Feuerwehr sprechen können, der sich geweigert hatte, die Löschfahrzeuge als Wasserwerfer gegen die Demonstranten einzusetzen. Der Mann war auch damals ganz engagiert in der katholischen Pfarrgemeinde. Wenn ich mich nicht irre, war der sogar ehrenamtlicher Küster. Das ist ein Mann, der aus innerer Glaubensüberzeugung etwas riskiert hat. Wenn das alles anders ausgegangen wäre, hätte ihn das ins Gefängnis bringen können. Der hat ja sogar ein Flugblatt in der Stadt verbreitet, dass die Freiwillige Feuerwehr nicht gegen die Demonstranten vorgehen wird. Plauen darf man nicht vergessen, wenn man an den Beginn der großen Demonstrationen denkt.
Frage: Gab es auch andere Gemeinden, die sich in diesem frühen Stadium der Wende besonders weit vor gewagt haben?
Reinelt: In Dresden-Johannstadt gab es schon lange vor 1989 einen Friedenskreis. Und die haben im Oktober als die Demonstranten von der Volkspolizei verprügelt wurden und nach Bautzen gebracht wurden ein großes Protestschreiben an die Regierung in Berlin gerichtet. Dieses Schreiben muss man auch heute im Rückblick noch bewundern. Der Friedenskreis hat eine tapfere Rolle gespielt. Das war für die Mitglieder nicht ungefährlich. Die Namen waren der Stasi alle bekannt.
Frage: Wie haben sie den 9. November erlebt?
Reinelt: Die Pressekonferenz mit Schabowski habe ich Dank einer Satellitenschüssel im Fernsehen gesehen und auch was danach in Berlin passierte. Aber der Ablauf der Ereignisse ist wirklich eine lustige Geschichte. Nachdem die DDR-Führung ja einige Konzessionen gemacht hatte, hatten wir schon weit vor dem 9. November für den 12. November eine Dankwallfahrt nach Rosenthal geplant. Und dann wurde drei Tage vorher die Grenze aufgemacht. Damit hatte keiner gerechnet. Es war zudem auch sehr kalt. Ich habe gesagt: "Da kommt doch eh keiner nach Rosenthal". Genau das Gegenteil war der Fall. Es waren 8.000 bis 10.000 Menschen da. Solche Wallfahrt habe ich vorher und nachher nie wieder erlebt. Das war Aufbruchsstimmung mit einer unvorstellbaren Freude und Begeisterung.
Der 9. November war ein Tag, an dem es in unseren Gemeinden ganz neu losging. Und das hat sich bei dieser Wallfahrt konzentriert. So haben wir, ohne es zu ahnen, den Wallfahrtstermin auf genau den richtigen Moment gesetzt und gleich die Freiheit und den Fall der Grenzen gefeiert.
Frage: Wir blicken Sie zurück auf die vergangenen 25 Jahre der Deutschen Einheit?
Reinelt: Wir haben eine Aufbauleistung erlebt, die wir uns nicht vorstellen konnten. Politisch sind wir eine echte Demokratie. Leider gehören die Auswüchse in die Extreme links und rechts dazu. Das muss man ertragen können.
Frage: Und was fehlt Ihnen?
Reinelt: Ich hätte mir gewünscht, dass man geistiger wacher, lebendiger wird. Ein Volk, dass sich immer nur um den Kleinkram kümmert, ist ein Volk ohne Kraft und Schwung. Wir brauchen für Europa und die ganze Welt einen Geist des Friedens und der Geschwisterlichkeit. Es muss eine Freude sein, Flüchtlingen zu helfen. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Armut in der Welt zurückgeht. Wir dürfen auch nicht so teilnahmslos an den Menschen in unserem Land vorbei leben, die noch nichts von Jesus Christus wissen. Auf diese Menschen müssen wir zugehen.
Das Interview führte Markus Kremser