Liturgiewissenschaftler Martin Stuflesser über den alten und den neuen Messritus

Keine stummen Zuschauer

Veröffentlicht am 31.07.2014 um 00:00 Uhr – Von Björn Odendahl – Lesedauer: 
Die traditionalistische Piusbruderschaft zelebriert die Messe nach dem alten Ritus.
Bild: © KNA
Liturgie

Würzburg ‐ Unter Gläubigen gibt es verhärtete Positionen bei der Frage "Tridentinische Messe" oder "neuer Ritus". Der Liturgiewissenschaftler Martin Stuflesser spricht über beide Formen der Messfeier, über Gottesdienstbesucher und die Zukunft.

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Frage: Wenn man über den Tridentinischen Ritus spricht, denken viele Menschen an zwei Dinge: an eine Messe auf Latein und an einen Priester, der mit dem Rücken zum Volk steht.

Stuflesser: Diese Aspekte wurden vom Konzil gar nicht als so wichtig erachtet. Das Konzil schreibt nicht vor, dass die Altäre umzudrehen sind und der Priester mit dem Gesicht zum Volk stehen muss. Das ist eine Möglichkeit in den nachkonziliaren Ausführungsbestimmungen, die sich dann aber erstaunlicherweise schnell und flächendeckend auf der ganzen Welt durchgesetzt hat. Außerdem beharrt das Konzil zunächst darauf, dass Latein weiterhin die Liturgiesprache ist. Es sollte nur bestimmte Teile wie die Lesungen oder Gebete in der jeweiligen Volkssprache geben. Beide Veränderungen lassen sich aber dennoch rechtfertigen, da es in der Liturgiekonstitution heißt, dass die Gläubigen der Messe nicht wie Außenstehende und stumme Zuschauer beiwohnen sollen (Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium, Nummer 48).

Andererseits feiert der Priester im alten Ritus auch nicht mit dem Rücken zum Volk, sondern mit dem Volk Gottes gemeinsam in Richtung Osten und damit der aufgehenden Sonne entgegen. Und die ist ein Symbol für Christus. Ebenso wenig steht der Priester beim neuen Ritus mit dem Gesicht zum Volk. Vielmehr versammelt sich die Gemeinde um den Altar, der auch ein Symbol für Jesus Christus ist. Natürlich sind das unterschiedliche Akzentsetzungen im Kirchenbild. Während es im vorkonziliaren Messbuch heißt "Der Priester, der sich zur Messe bereitet, angetan mit den liturgischen Gewändern …", steht nachkonziliar "Nachdem sich das Volk Gottes versammelt hat …". Das Volk Gottes ist dann keine Zutat mehr, die beliebig weggelassen werden kann, sondern integraler Bestandteil der Feier.

Porträt eines dunkelhaarigen Mannes.
Bild: ©Privat

Martin Stuflesser ist Priester der Diözese Mainz und Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius Maximilians-Universität in Würzburg.

Frage: Gibt es weitere Akzentverschiebungen?

Stuflesser: Um nur eines herauszugreifen: Auffällig verändert hat sich die Rolle des Wortgottesdienstes. Vor dem Konzil wurde er als "Vormesse" bezeichnet, die auf den eigentlichen Hauptteil vorbereitet. Nun heißt es in der Liturgiekonstitution: "Der Tisch des Wortes soll reicher gedeckt werden." Das zeigt sich dann auch in der nachkonziliaren Leseordnung. Wir haben heute an Sonn- und Festtagen eine alt- und eine neutestamentliche Lesung, den Psalm als Antwort auf die erste Lesung sowie das Evangelium; es gibt drei Lesejahre für die Sonn- und zwei für die Wochentage. Die Heilige Schrift hat also eine viel stärkere Gewichtung innerhalb der Liturgie erhalten – im Bild des Konzils: Der Tisch des Wortes wird dem Volk Gottes viel reichhaltiger gedeckt.

Frage: Dennoch gibt es die Vorwürfe, die neue Liturgie sei weniger feierlich als die alte. Stimmen Sie dem zu?

Stuflesser: Man muss aufpassen, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht: auf der einen Seite ein in Fahnen und Weihrauchschwaden gehülltes vorkonziliares Hochamt mit Chor und Orchester. Und auf der anderen eine schlecht vorbereitete Werktagsmesse im nachkonziliaren Ritus, in der der Priester den Alleinunterhalter spielt, die Lesungen und Fürbitten vorträgt und am besten mit umgehängter Gitarre auch noch den Kantorendienst vollzieht. Das ist natürlich eine Karikatur. Aber bleibt man einmal bei diesem Gedanken, könnte man ja andersherum fragen: Wer würde einen heutigen Papstgottesdienst auf dem Petersplatz mit all seiner Pracht und Festlichkeit gegen eine vorkonziliare "Stillmesse", die unter Umständen in 18 Minuten quasi absolviert wurde, eintauschen? Solch eine Form kommt uns doch heute ziemlich befremdlich vor. Es gab aber sicher auch nachkonziliare Entwicklungen, gerade in den experimentierfreudigen 1970er-Jahren, die weniger von großem liturgischem Fachwissen gekennzeichnet waren, als vielmehr davon, dass Dinge einfach ausprobiert werden sollten.

Frage: Kommen wir noch einmal auf die Ordnung von Priester und Gemeinde im Gottesdienst zurück. Befürworter des alten Ritus sagen, dass früher Gott im Zentrum der Messe stand. Heute sei es der Mensch.

Stuflesser: Solche Thesen wundern mich immer etwas. Ich pflege die Leute dann zu fragen, ob sie die reale Gegenwart Jesu Christi im Gottesdienst der Kirche leugnen wollen (SC 7). Denn wenn wir davon ausgehen, dass beim nachkonziliaren Ritus der Priester nicht mit dem Gesicht zum Volk steht, sondern sich die Gemeinde um den Altar versammelt, kann ich nicht sagen, dass die Gemeinde sich von Gott abwendet: Auf diesem Altar werden unter den Gestalten von Brot und Wein schließlich der Leib und das Blut Christi gegenwärtig. Für mich sind allerdings verschiedene Ausdrucksformen des Betens legitim: In manchen Fällen ist die gemeinsame Ausrichtung – zum Beispiel nach Osten oder auf ein Kreuz hin – die angemessene Weise, in anderen ist es sachgerecht, sich um den Altar zu versammeln.

Frage: Es fällt auf, dass sich nicht nur ältere Gläubige gegen eine gewisse Form der Modernisierung stellen. Wie kommt es, dass auch viele junge Menschen dem Tridentinischen Ritus nachtrauern, obwohl sie ihn eigentlich nie wirklich kennengelernt haben?

Stuflesser: Wäre ich boshaft, könnte ich sagen, dass genau das der Grund ist. Hier wird eine Vorstellung von Liturgie idealisiert, die es in dieser Form so nie gegeben hat. Mit Studierenden habe ich einmal eine so genannte Tridentinische Messe besucht. Dort hat der Priester am Hochaltar Richtung Osten zelebriert, allerdings mit Mikrofon, so dass man die Texte verstehen konnte. Es war ihm wichtig, dass die Gemeinde hört, was gebetet wird. Das vom Zweiten Vatikanum in den Vordergrund gestellte Prinzip der tätigen Teilnahme aller Gläubigen hatte dieser Priester also vollkommen verinnerlicht. Das ist aber gerade nicht die Form, in der vorkonziliar gefeiert wurde. Die Mitfeiernden haben damals zum Beispiel parallel zur vom Priester "gelesenen" Messe den Rosenkranz oder fromme Andachten gebetet. Und damit sind wir beim Kernpunkt.

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Bischöfe, Gemeindemitglieder und Ordensleute äußern ihre Vorschläge beim Gesprächsforum "Liturgia" in Stuttgart im Rahmen der Dialoginitiative.

Frage: Der wie aussieht?

Stuflesser: Schon Papst Pius X. sagte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er wolle nicht, dass die Gläubigen während der Messe beten, sondern die Messe selbst beten, also das tätig mitvollziehen, was hier liturgisch geschieht. Wenn ich von Leuten höre, dass sie in der vorkonziliaren Messe aber besser persönlich beten könnten, muss ich ihnen leider sagen, dass dies nicht der primäre Zweck der Messfeier ist. Denn das liturgische Gebet der Kirche vollzieht sich immer in Gemeinschaft. Die Frage, wie ich mich darin privat fühle, ist hier nicht die zentrale.

Frage: Kritiker sehen einen Zusammenhang zwischen einer rückläufigen Zahl an Gottesdienstbesuchern und dem neuen Ritus.

Stuflesser: Ein großes Problem ist, dass unsere Statistiken meistens erst im Jahr 1945 beginnen. Durch den Krieg und die Not der Menschen haben wir zu dieser Zeit einen hohen Anteil an Gottesdienstfeiernden, der aber keineswegs bei 100 Prozent liegt. Schaut man sich jedoch frühere Zahlen an, wird deutlich, dass der eigentliche Einbruch schon direkt nach dem Ersten Weltkrieg erfolgt ist. Da geht es um Schlagworte wie "Kirche und die Arbeiterfrage" oder "Modernitätskrise". Bereits zu dieser Zeit verliert der Gottesdienst der Kirche ganz viele Menschen. Die Zahlen steigen dann noch einmal an, brechen aber in der Zeit rund um das Konzil wieder ein.

Frage: Warum gab es diesen Einbruch?

Stuflesser: Wenn Sie sich die Aufzeichnungen der Theologen anschauen, die an der Liturgiereform beteiligt waren, dann war denen relativ klar, dass die Zahl derer, die die heilige Messe mitfeiern, erst einmal abnehmen würde. Denn der neue Ritus nimmt mich als Person ganz anders in Anspruch, wenn ich verstehe, was da gebetet und gefeiert wird. Wenn ich Liturgie ernst nehme, erwartet sie von mir nicht weniger, als dass ich mich dem lebendigen Gott aussetze. Die Wandlung der Gaben bedeutet auch die Wandlung unser selbst, so dass wir immer mehr Gemeinschaft und Leib Christi werden. Das ist eine enorme Herausforderung, auch im ethischen Sinn. Man darf nicht verkennen, dass manche Menschen sich hiervon schlicht überfordert fühlen.

Frage: Was muss Liturgie in der pluralistischen Gesellschaft von heute leisten?

Stuflesser: Es ist natürlich wichtiger geworden, dass Liturgie auch missionarisch sein kann, dass sie möglichst aus sich heraus "spricht". Die Zugänge zu unseren liturgischen Feiern sollten entsprechend der Pluralität an Lebensformen breiter werden, und da hilft selbstverständlich, wenn Menschen, die sich in eine Eucharistiefeier verirren, zumindest einigermaßen nachvollziehen können, was da äußerlich passiert. Hier hat die Liturgiereform viel gebracht. Die Riten wurden gestrafft und Wiederholungen beseitigt. Der Messritus hat eine so klare Struktur, dass sie auch ökumenisch von vielen anderen kirchlichen Gemeinschaften übernommen wurde.

„Er hat eine große Nüchternheit und Klarheit, verlangt aber von allen, die ihn feiern, eine gewisse Kompetenz.“

—  Zitat: Martin Stuflesser über den neuen Ritus

Ob er aber auch inhaltlich für jeden verständlich ist, ob er das überhaupt sein kann, ist eine andere Frage. Denn mit jeder Eucharistiefeier bewegen wir uns ein Stück weiter auf Jesus Christus, auf Gott hin zu. Sie ist die liturgische Höchstform. Deshalb brauchen wir in der heutigen Zeit auch dringend niedrigschwellige liturgische Angebote, die Menschen einladen, zum ersten Mal mit christlich geprägten Ritualen in Kontakt zu kommen. Bei einer "Nacht der offenen Kirchen" etwa oder bei Taizé-Gebeten sind die Kirchen voll und es kommen Menschen, die nie in eine Eucharistiefeier gehen würden. So viele Menschen sind auf der Suche nach Gott. Wir müssen sie nur abholen.

Frage: Der "neue" Ritus ist auch schon fast 50 Jahre alt. Ist er noch zukunftsfähig?

Zwei Jungen und ein Mädchen im Grundschulalter
Bild: ©KNA

Im Kindergottesdienst

Stuflesser: Ich bin in dem Ritus groß geworden, bin selbst Priester und feiere ihn gerne. Er hat eine große Nüchternheit und Klarheit, verlangt aber von allen, die ihn feiern, eine gewisse Kompetenz. Es ist keine priesterzentrierte Veranstaltung, so dass wir in den Gemeinden viele Menschen brauchen, die die Liturgie mittragen. Das Positivste an der Liturgiereform ist für mich, mit welcher Selbstverständlichkeit getaufte Christinnen und Christen das tun – zum Beispiel als Lektoren, Messdiener, Kommunionhelfer, Kantoren oder Organisten.

Frage: Muss sich Kirche noch mehr anpassen? Wo sehen sie die Grenzen?

Stuflesser: Wir unterscheiden in der Liturgie zwischen dem Sinngehalt und der Feiergestalt. Wenn die Kirche eine immer zu reformierende bleibt, dann gilt das auch für die Liturgie. So ist auch das aktuelle Messbuch keineswegs ein "Endprodukt". Schwierig finde ich es, wenn an der Grundstruktur herumgebastelt wird. Auch die jetzige Form der Eucharistiefeier bietet eine Fülle an Möglichkeiten: eine große Auswahl an Texten, zum Beispiel verschiedene Hochgebete und andere Vorstehergebete, eine Breite an biblischen Lesungen durch die schon erwähnte wechselnde Leseordnung oder die musikalische Vielfalt durch das neue Gotteslob. Und in der Predigt kann auf das eingegangen werden, was uns jeweils aktuell betrifft. Meine Sorge möchte ich mit den Worten des damaligen Bischofs von Mainz, Kardinal Hermann Volk, ausdrücken. Der hat, als er von der ersten Konzilsperiode zurückkam, gesagt: "Wir werden bald schon sehr viel mehr dürfen, als wir können." Und das ist auch mein Eindruck. Wir haben eine Fülle von Variationsmöglichkeiten, deren Einsatz aber eine ganz große liturgische Bildung und Kompetenz voraussetzen. Und da frage ich mich manchmal, ob die überall so gegeben ist – bei Gemeindemitgliedern, aber auch bei denen, die der Liturgie vorstehen.

Von der Tridentinischen zur neuen Messe

Was bedeutet Tridentinische Messe? Damit ist die Messform gemeint, die das Konzil von Trient (1545-1563) als Reaktion auf die Anfragen der Reformation festgelegt hat und die mit dem Messbuch ("Missale Romanum") von 1570 verbindlich wurde. Rund 400 Jahre lang, bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, war der Ritus in leicht modifizierter Form gültig. Verschiedene Päpste haben schon unmittelbar nach Trient kleine Veränderungen – zum Beispiel an Texten – vorgenommen. Einen relativ großen Einschnitt gab es 1960, als Johannes XXIII. die Rubriken, also die Regieanweisungen der Messfeier, neu geordnet hat. 1962 kam noch einmal eine Neufassung des Missale Romanum heraus. Um diese geht es, wenn heute von der Tridentinischen Messe gesprochen wird. Wie entstand der neue Ritus? Das Konzil selbst erteilt in der Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium" (SC) eigentlich nur Arbeitsaufträge. Dazu zählt auch eine Überarbeitung des Messritus. Auf den Konzilen selbst entstehen keine liturgischen Bücher, weil die Zeit dafür fehlt. Stattdessen hat eine Arbeitsgruppe in den Folgejahren einen neuen Ablauf ("Ordo missae") entwickelt. Das Ergebnis wurde 1969 von Papst Paul VI. veröffentlicht. 1970 erschien dann das neue lateinische Messbuch. Anschließend folgten die volkssprachlichen Übersetzungen, zum Beispiel im Jahr 1975 für Deutschland. (luk)
Von Björn Odendahl