Nach der Flucht kommt der Deutschunterricht
Aras ist 13 Jahre alt und ein Charmeur. Keck lächeln seine dunklen Augen unter der adretten Frisur mit dem sorgfältigen Seitenscheitel, als er erzählt, dass er später einmal Polizist werden will. Nachdem der Junge eine Runde Tischtennis gespielt hat, sitzt er jetzt am großen Esstisch im Wohnzimmer und übt sich in einem Geduldsspiel, bei dem er eine Kugel auf einer schiefen Ebene hin- und her bewegen muss.
Doch ob Aras es wirklich einmal schafft, Polizist zu werden, steht in den Sternen. Es ist noch nicht einmal klar, ob er die Schule schafft. Trotz seiner offenen Art ist es nicht leicht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Denn der Jeside aus dem Irak ist erst seit ein paar Monaten in Deutschland. Sein Deutsch ist noch gebrochen. Er ist alleine gekommen. Über 4.000 Kilometer und zwei Stunden Zeitverschiebung liegen jetzt zwischen ihm, seinen Eltern und seinen Geschwistern.
"Er will nicht, dass man ihm das anmerkt"
Trotzdem hat Aras Glück: "Seine Flucht war sehr gut geplant und dauerte nur rund eine Woche. Am Ende wurde er von seinem Bruder, der schon vor Jahren nach Deutschland gekommen ist, am Bahnhof in Heidelberg abgeholt", erklärt Maria Uebachs. Die 30-jährige Sozialarbeiterin gehört zu dem Team von fünf Pädagogen, die Aras und sieben weitere unbegleitete minderjährige Jugendliche im Haus 1 des katholischen Jugendhilfezentrums Maria im Tann rund um die Uhr betreut. "Es fällt ihm schwer, von seiner Familie zu sprechen, auch wenn er nicht will, dass man ihm das anmerkt".
Das neue Zuhause für die Flüchtlinge liegt am Rand Aachens in einer idyllischen Umgebung. Ein Waldgebiet grenzt an das Heim, mehrere einstöckige, langgezogene Gebäude liegen auf einem großzügigen Gelände mit viel Grün. Vom benachbarten Kletterwald schallen Stimmen herüber, auf einem kleinen abgezäunten Fußballplatz kicken ein paar Jugendliche auf ein Tor zu, von irgendwoher ist ein Rasenmäher zu hören. An der Tür des Gebäudes mit der Aufschrift "Haus 1" hängt ein Boxsack, drinnen reihen sich unzählige Paare Schuhe auf und es riecht noch leicht nach dem Mittagessen.
Wer hier ankommt, hat so etwas wie eine Ersatzfamilie gefunden: Die Jugendlichen leben dauerhaft zusammen unter einem Dach, die Pädagogen organisieren als "Ersatzeltern" den Alltag, sorgen dafür, dass die Heranwachsenden die Schule besuchen oder eine Ausbildung machen und Hobbys nachgehen können. Vor allem aber sind sie da, wenn es Probleme gibt. Und die bleiben nicht aus. Denn nicht jeder Bewohner hatte auf seiner Flucht so viel Glück wie Aras.
Erst 17 Jahre alt - und so viel Leid erlebt
Da ist zum Beispiel Ali. Sein Name wurde für diese Geschichte wie die der anderen Jugendlichen geändert. Ali ist ein ordentlich gekleideter, ernster junger Mann, dessen Geschichte in Afghanistan beginnt. Dort ist er nie zur Schule gegangen. Stattdessen arbeitet er früh als Schäfer, um etwas Geld für die Familie zu verdienen. Doch eines Nachts klauen Diebe einige der Tiere. Nun droht die Rache der Viehbesitzer. Sie könnte Ali das Leben kosten, fürchtet die Mutter. Die Witwe schickt ihren Sohn los auf eine lange Odyssee. Zunächst strandet Ali im Iran. Vier Monate arbeitet er dort, um sich seine Weiterreise zu finanzieren. Seine Auftraggeber sind nicht zimperlich, sie schlagen und misshandeln ihn. Schließlich schafft er es bis in die Türkei. Von da aus geht es mit einem Boot in ein griechisches Flüchtlingscamp, weiter nach Ungarn und mit dem Zug im Spätsommer 2015 nach München.
Ali ist erst 17 und hat schon so viel Leid erlebt, dass es eigentlich für mehrere Menschenleben reicht. Und er ist nicht allein mit seinem Schicksal. Ähnliche Geschichten hat Maria Uebachs auch von anderen jungen Flüchtlingen gehört, die ohne Begleitung gekommen sind. "Sie haben Freunde oder Familie ertrinken sehen. Wenn sie aus Afrika kamen, haben sie sich auf dem Weg durch die Sahara in die Hände von Schlepperbanden gegeben, ohne zu wissen, wieviel zu trinken sie bekommen würden". Das hinterlässt Spuren. Alis Zimmer in Haus 1 sieht zwar auf den ersten Blick so aus wie das eines ganz normalen Jugendlichen. Neben dem Bild eines afghanischen Künstlers hängt ein großes Porträt von Bob Marley, es gibt ein Bett, einen Schreibtisch, ein E-Piano. Doch Kleinigkeiten erzählen mehr. Da ist zum Beispiel das Kuscheltier im Bett, viel zu groß für einen 17-Jährigen.
Versteckt hinter der Tür hängt etwas, das zunächst aussieht wie ein selbstgebasteltes Thermometer. Tatsächlich ist es aber ein Instrument, mit dem der Jugendliche Auskunft geben kann über seinen Gemütszustand: Auf einer Skala von 1 bis 10 kann Ali hier zeigen, ob er sich erschöpft fühlt, Angst hat, wütend oder traurig ist - und das ganz schnell, ohne die lästige Sprachbarriere. "So teilt er uns nonverbal mit, wenn es ihm schlecht geht und wir können reagieren", erklärt Maria Uebachs. Den Tipp mit dem Sorgenbarometer hat Ali von seiner Psychologin bekommen. Wie viele der Bewohner hier geht er nicht nur seinen Hobbys wie dem Klavierspielen nach, sondern versucht auch, seine Erlebnisse in einer Therapie zu verarbeiten.
Aus Richtung des Kickers ertönt Geschrei. Zwei Betreuer spielen gegen zwei junge Bewohner - und die Betreuer haben keine Chance. 1:7 steht es, als den beiden ein weiterer Ehrentreffer gelingt. 3:10 lautet schließlich der Endstand, es folgt die unmittelbare Herausforderung zur Revanche. Nebenan im Wohnzimmer geht es ruhiger zu. Am Esstisch wird gebüffelt. Der 17-jährige Simon aus Mali hat nach Hilfe bei den Hausaufgaben gefragt und sich von Jahrespraktikant Elias Saadi erklären lassen, wie das mit den deutschen Personalpronomen funktioniert: "Da sind die Fenster - da sind sie" und "Da ist das Buch - da ist es" steht nun in seinem Heft, der junge Mann spricht die Sätze mit einiger Mühe nach.
"Wir sind keine Katholikenfabrik"
Dass die Jugendlichen ein möglichst normales Leben führen, gehört zu den zentralen Säulen des Konzepts der katholischen Jugendhilfe-Einrichtung. "Das sind Flüchtlinge, aber das sind auch Jugendliche, die im Aufbau ihres Lebens sind. Dafür brauchen sie einen Alltag - so wie alle anderen Jugendlichen auch", sagt Stefan Küpper, der seit 36 Jahren in Maria im Tann arbeitet und es seit 30 Jahren als Direktor leitet. "Uns ist es wichtig, dass die Jungs nach ihren Fluchterfahrungen hier wieder merken: Ich werde gesehen, ich werde gehört, ich werde ernst genommen und respektiert".
Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind auf großes Interesse gestoßen: Diverse Zeitungen haben berichtet, im August kam Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu Besuch. Auch, wie das Zusammenleben junger Leute verschiedenen Glaubens und verschiedener Kulturen funktioniert, wollte die Politikerin wissen. Stefan Küpper hat beobachtet, dass die Jugendlichen nach den traumatischen Erfahrungen ihrer Flucht oft Trost in ihrer Religion suchen. Deswegen unterhält das Heim Kontakte zur Moschee in Aachen, die eritreischen Christen fahren ab und an nach Köln, um dort die Messe in ihrer Gemeinde zu erleben. Auch im Heim selbst werden christliche Gottesdienste und Feste gefeiert - so wie in einigen Wochen Weihnachten. "Aber wir sind keine Katholikenfabrik. Hier können auch die Muslime ihren Gebetsteppich ausrollen", ist es Küpper wichtig zu betonen.
Ob es denn auch Konflikte aufgrund der Religion gebe? Ja klar, sagt Küpper. So sei es schon passiert, dass fromme Muslime versuchten, ihre eher säkularen Mitbewohner zu missionieren. "Aber dann sagen wir: Mit solchen Aktionen ist es jetzt Schluss. Ihr kommt aus schwierigen Situationen, auch aus Verfolgung, aber das ist vorbei. Sowohl von unserer Seite der Erwachsenen, als auch unter Euch".
Warum sind hier immer Frauen der Chef?
Wo die derzeitigen Bewohner der Hauses 1 genau herkommen, ist einer Weltkarte im Wohnzimmer zu entnehmen. Von Mali, Bangladesch, Guinea, dem Irak und Afghanistan zeigen die Verbindungen nach Aachen. An einer Wand hängt eine Tafel, die den Alltag der acht Jungs organisiert. Wann Schule ist, steht da genauso wie Klavierunterricht und Fußball am Nachmittag. Neben dem Esstisch gibt es auch eine riesige Couch mit einem Fernseher. Einen PC in einer Ecke des Raumes nutzen die Jugendlichen, um zu surfen und mit ihren Freunden und Familien in Kontakt zu bleiben. Eine Playstation ist da und im Regal stehen jede Menge Pokale, etwa vom heimeigenen Tischtennisturnier und dem Wettbewerb, den die Heimbewohner im Sommer parallel zur Fußball-EM organisiert hatten. Auch, wenn die meisten erst kurz hier leben, sind sie sich gegenseitig nicht egal. Am Morgen ist einer von ihnen ins Krankenhaus eingeliefert worden - er leidet noch an den Folgen der Flucht. Im Laufe des Nachmittags fragt ein Jugendlicher nach dem anderen Maria Uebachs nach dem Befinden des Patienten.
Dennoch ist das Zusammenleben nicht immer leicht - und bringt manche Erlebnisse mit sich, bei denen Maria Uebachs nicht weiß, ob sie lachen oder weinen soll. So wird sie schon mal ganz unverblümt auf ihr Frausein angesprochen. "Es kam schon mal die Frage: Warum kann man hier nicht drei Frauen haben? Und warum sind hier immer Frauen der Chef?", erzählt sie. Und manche der Neuankömmlinge hätten vor ihrer Ankunft noch nie einen Staubsauger gesehen. "Sie erschrecken dann, wenn zum ersten Mal in ihrer Nähe einer angemacht wird."