"Nicht mehr nur als westliches Problem abgetan"
Frage: Pater Zollner, wie unterscheidet sich die Weltkirche im Umgang mit Missbrauch und Missbrauchsprävention?
Zollner: Ich glaube, dass es mittlerweile in vielen Teilen der Kirche ein Bewusstsein für das Thema gibt. Es wird nicht mehr nur als "westliches Problem" abgetan, 96 Prozent aller Bischofskonferenzen haben Leitlinien zur Prävention erlassen. Aber wie aktiv man dabei ist, Abläufe und Strukturen zu verändern, Menschen zu schulen, das ist doch sehr unterschiedlich. Das liegt auch daran, dass sexuelle Gewalt in vielen Kulturen noch immer ein großes Tabuthema ist. Außerdem gibt es mancherorts Probleme, die als noch drängender erlebt werden: Naturkatastrophen, Kriege, Ausbeutung oder Hungersnöte, von denen auch Kinder und Jugendliche betroffen sind.
Frage: Wo genau besteht noch Nachholbedarf?
Zollner: Noch sehr viel zu tun ist im französischsprachigen Westafrika, in einigen Ländern Asiens, in Ozeanien und in Zentralamerika. Auch in Europa ist der Standard nicht überall derselbe. In einigen mittel- und osteuropäischen Ländern ist die Kirche jetzt immerhin soweit, dass wir anfangen, über dieses Thema zu reden. Die Kirche wird dann zur Vorläuferin für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung. Aber es gibt auch in Europa bis heute Länder, in denen Missbrauch geleugnet und vertuscht wird.
Frage: Warum passiert das?
Zollner: Weil es psychische, strukturelle und systemische Abwehrmechanismen gibt: Die Kirche will keine Institution sein, die einen Makel hat, will sich nicht eingestehen, dass Verantwortungsträger so etwas Schreckliches machen. Konflikte werden gescheut, persönliche oder professionelle Bindungen spielen eine große Rolle. Die Erfahrung lehrt, dass alle Institutionen den Schutz ihrer Mitglieder vor andere Überlegungen rücken. Das ist ein Grundprinzip systemischer Verteidigungsmechanismen. Das trifft für die BBC zu, für Sportverbände, für die UNO-Soldaten in Zentralafrika. Auch dort wurden Kinder missbraucht, und Vorgesetzte haben das nicht gemeldet. Bei der katholischen Kirche kommt erschwerend hinzu, dass wir uns auf höhere Ideale berufen. Die Menschen klagen uns zu Recht an, wenn wir diese Ideale verraten. Außerdem haben manche Kirchenleute Unbehagen, mit dem Thema Sexualität offen umzugehen. Man hofft, dass Täter, die versprechen, nie wieder Kinder zu missbrauchen, das auch einhalten – ohne sich bewusst zu machen, dass es sich dabei nicht nur um eine willentliche Entscheidung handelt. Das ist eine falsch verstandene Vergebungsspiritualität.
Frage: Wie schneiden die Präventionsmaßnahmen der katholischen Kirche in Deutschland im internationalen Vergleich ab?
Zollner: Sie steht da sicher sehr weit vorne. Spitze sind die USA, Irland und Australien. Das sind Länder mit einem großen Einsatz von Geldmitteln für Prävention und gleichzeitig einer sehr, sehr kritischen Öffentlichkeit. In Deutschland ist die katholische Kirche die einzige Institution, die flächendeckend Präventionsleitlinien eingeführt hat für Diözesen, Orden, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser. Da ist sie in einer Vorreiterrolle, das wird ihr auch von nichtkirchlichen Stellen bestätigt. Wir dürfen uns darauf aber nicht ausruhen.
Frage: Sie leiten das Kinderschutzzentrum an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Es setzt auch auf E-Learning-Programme. Ist das Internet bei der Prävention sexuellen Missbrauchs überhaupt das richtige Medium?
Zollner: Unser Ansatz des "blended learning", also des "integrierten Lernens", ist es ja gerade nicht, dass man sich anonym einloggt und alleine einen Kurs macht. Die E-Learning-Einheiten wechseln sich ab mit Unterrichtsstunden und Diskussionsrunden. Zu den Schulungen überall auf der Welt melden sich jeweils ganze Gruppen an, Einzelteilnehmer sind nicht zugelassen. Wir erwarten außerdem, dass es vor Ort einen Projektmanager gibt, der das Thema kennt und für die jeweilige Zielgruppe die spezifischen Lerneinheiten auswählt. Das ist bei Priesteramtskandidaten etwas anderes als bei Lehrern oder medizinischem Personal. Unser Ziel ist nicht nur die reine Wissensvermittlung, sondern eine Einstellungsänderung.
Frage: Im Mai wurde der erste Diplomkurs für Präventionsbeauftragte an katholischen Institutionen abgeschlossen. Was haben die Teilnehmer gelernt?
Zollner: Der Diplomkurs ist für Personen aus der Weltkirche gedacht, die in der Präventionsarbeit für ihre jeweiligen Bischofskonferenzen, Orden, Diözesen arbeiten sollen. Wir setzen auf Multiplikatorenausbildung. Wir können auf ein weltweites Netz von Experten zurückgreifen, die ihre Expertise gern zur Verfügung stellen und auch online lehren – da gibt es etwa einen philippinischen Professor, der zum Umgang mit den Tätern gesprochen hat oder eine britische Kinderpsychiaterin, die sich besonders mit Missbrauch von behinderten Kindern auskennt. Es geht darum, die entscheidenden Schlüsselqualifikationen zu vermitteln: Wie erkenne ich Missbrauch? Wen frage ich um Rat? Was ist die Rechtslage in meinem Land? Wie muss eine Institution aufgebaut sein, damit sie Missbrauch eben nicht begünstigt, sondern verhindert? Für diesen Kurs auf Englisch mussten die Kandidaten für ein Semester in Rom wohnen. Dieses Jahr waren 19 weibliche und männliche Studierende dabei, davon elf aus Afrika, vier aus Europa und jeweils zwei aus Asien und Lateinamerika.
Frage: Ist die Wahrscheinlichkeit für sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche gesunken im Vergleich zu der Zeit, bevor der Missbrauchsskandal ans Licht kam?
Zollner: Ja, das kann man statistisch ganz klar nachweisen. In den USA etwa, die die weltweit strengsten Präventionsmaßnahmen haben, gibt es nur sehr, sehr wenige Meldungen zu Übergriffen in den letzten 12 Monaten. Prävention wirkt. Natürlich gibt es weiter Anzeigen, aber die meisten beziehen sich auf Fälle, die bis zu 20 oder 30 Jahre zurückliegen. Dennoch dürfen wir das Thema niemals abschließen. Mit Missbrauchsfällen in Kirche, Gesellschaft und den Familien werden wir immer rechnen müssen. Es wäre eine Illusion zu glauben, jemals das Böse auf der Welt mit Präventionsmaßnahmen vollständig ausrotten zu können. Das muss uns anspornen, alles zu tun, um Kinder zu schützen.