Unfehlbarkeit der Gläubigen?
Hier ist der Kunde König, da ist das Volk der Souverän, aber welche Bedeutung hat die Lebenspraxis einfacher Katholiken für die kirchliche Morallehre? Reicht es aus, die kirchliche Lehre besser zu erklären oder anders zu vermitteln? Ebendies ist die Frage, mit der sich die am Sonntag beginnende Weltbischofssynode über die Familie nach dem verheerenden Ergebnis der vatikanischen Umfrage zu Familie und Ehe befassen muss.
Die Gesamtheit der Gläubigen "kann im Glauben nicht irren". Diese geradezu revolutionäre Aussage für all jene, die Unfehlbarkeit ausschließlich mit dem Papst verbinden, verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) vor 50 Jahren. Das Konzil spricht hier erstmals vom Glaubenssinn des Gottesvolkes. Dieser äußere sich dann, wenn "von den Bischöfen bis zu den letzten Laien" alle ihre "allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten" kundtäten. Damit ist freilich nicht gesagt, dass einfach die Mehrheitsmeinung zählt. Nötig sei, so das Konzil, die "Leitung des heiligen Lehramtes", in dessen "treuer Gefolgschaft" das Volk zu stehen hat.
Der Glaubenssinn: eine Art "geistlicher Instinkt"
Ein im Juni veröffentlichten Dokument der Internationalen Theologenkommission des Vatikan sieht es ähnlich: Der Glaubenssinn sei eine "Art geistlicher Instinkt", der die Gläubigen befähige, spontan zu erkennen, "ob eine bestimmte Lehre oder Praxis in Einklang mit dem Evangelium und dem apostolischen Glauben steht".
Als kirchengeschichtliches Beispiel für den Glaubenssinn werden häufig die päpstlichen Marien-Dogmen von 1854 und 1950 angeführt. Damit habe das kirchliche Lehramt eine Lehre ausdrücklich formuliert, die in der Glaubenspraxis der einfachen Katholiken unausgesprochen schon seit der Spätantike verankert gewesen sei.
Heikel ist hingegen der umgekehrte Fall: Kann die Glaubenspraxis auch Korrektiv des Lehramts sein? Ist es vorstellbar, dass das Lehramt eine Lehre zurücknimmt oder stillschweigend in den Hintergrund treten lässt, die sich jahrzehntelang unter den Gläubigen nicht durchgesetzt hat?
Der deutsche Jesuit Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, hat hierzu festgehalten, es könne zwar keinen Widerruf einer dogmatisch definierten Lehre geben, wohl aber eine Nichtrezeption. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Enzyklika "Humanae vitae" und ihr Verbot künstlicher Empfängnisverhütung.
Die Rezeption der Lehre kann verweigert werden
Nach Rahner hat es in der Kirchengeschichte sogar Fälle gegeben, in denen sich die einfachen Gläubigen dem kirchlichen Lehramt verweigert haben und sich ihr eigener neuer Vorschlag schließlich durchgesetzt hat. Als Beispiel nennt er die Säuglingstaufe. Die frühere Auffassung, dass der Säugling aufgrund der Erbsünde ohne Taufe dem Teufel ausgeliefert sei, sei vom Verständnis der Taufe als Aufnahmeritus in die Kirche verdrängt worden.
Auch die Theologenkommission äußerte sich zu dem Fall, dass "die Mehrheit der Gläubigen gleichgültig gegenüber Entscheidungen des Lehramtes in Fragen von Glauben und Moral bleibt" oder "sich ihm sogar widersetzt". Eine solche Diskrepanz könne wohl in "einigen Fällen" darauf zurückzuführen sein, dass man Erfahrung und Glaubenssinn der Gläubigen nicht ausreichend berücksichtigt habe. Welche Folgen das hat, lässt das Papier allerdings offen.
Papst Franziskus hat wiederholt davon gesprochen, dass die Bischöfe nicht nur ihrer Herde voranzugehen hätten, sondern ihr bisweilen auch folgen sollen. Der Glaubenssinn mache die Gläubigen in ihrer Gesamtheit zu einem "Volk von Propheten". Er wandte sich jedoch ebenfalls gegen eine Deutung des Glaubenssinns in einem demokratischen Sinn. Was die Propheten im eigenen Land zählen, wird die Weltbischofssynode zeigen.