Vom Konflikt zur Gemeinschaft
Ökumenisches Zeitalter
1. Nach Jahrhunderten wechselseitiger Verurteilungen und Verunglimpfungen werden evangelische und katholische Christen im Jahr 2017 erstmals gemeinsam des Beginns der Reformation vor 500 Jahren gedenken. Frühere Jahrhundertgedenken zeichneten sich durch heftige wechselseitige Polemik aus: Für evangelische Christen waren sie Anlass, ihr Glaubensverständnis zu feiern und zu rechtfertigen, während Katholiken die evangelischen Christen des Abfalls von der wahren Kirche beschuldigten.
2017 wird der historische Kontext für die Erinnerung an die Reformation 2017 ein völlig anderer sein als in früheren Jahrhunderten: Die Erinnerung findet zum ersten Mal in einem ökumenischen Zeitalter statt. Dieses Jahr wird auch das 50. Jahr des Lutherisch/Römisch-katholischen Dialogs sein. Das ist eine Herausforderung sowohl für die Weise der Erinnerung wie für die Ökumene. Eines ist indes gewiss: Katholiken und Lutheraner wollen nicht die Spaltung der Kirche feiern, sondern an die theologischen Einsichten und Ereignisse erinnern, die "Reformation" genannt werden.
Der Bericht "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" stellt sich dieser Herausforderung. Der Titel verweist auf einen ökumenischen Weg, dessen Ziel noch nicht erreicht ist.
Zeitalter der Globalisierung
2. Die Erinnerung findet nicht nur in einem ökumenischen, sondern auch im Zeitalter der Globalisierung statt. Es ist dies eine Zeit, die durch zahlreiche neue religiöse Bewegungen wie durch starke Säkularisierungstendenzen geprägt ist. Christen stehen heute gemeinsam vor neuen Herausforderungen in der Begegnung und in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen. Es ist ihre tiefe und feste Überzeugung: Wenn Christen diese Herausforderungen bestehen wollen, dann können sie dies nur gemeinsam tun. Dem dient die gemeinsame Wahrnehmung der Reformation, wie sie durch die neuere katholische Lutherforschung, durch neue Zugänge zum Verstehen des Mittelalters wie zu Luther auf evangelischer Seite, schließlich die Öffnung der katholischen Kirche zur Ökumene auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ermöglicht worden ist. Im Licht der ökumenischen Entdeckungen können Katholiken heute unbefangener Martin Luthers Reformanliegen würdigen und sie mit größerer Offenheit betrachten als zuvor (zweites Kapitel). Luther stellt auch für Katholiken heute eine geistliche und theologische Herausforderung dar.
Geschichte gemeinsam erzählen
3. Lutheraner und Katholiken sind heute in der Lage, die Geschichte der lutherischen Reformation gemeinsam zu erzählen. Sie geben in dem neuen Dokument eine kurz gefasste Schilderung der Ereignisse der Reformation (drittes Kapitel), die auf das Bekanntwerden von Luthers 95 Thesen zum Ablass nach 1517 folgten. Die Erzählungen spannen sich vom Bann und der Acht gegen Luther bis zum Entstehen evangelischer Gemeinden mit Bibelübersetzung, Katechismen, Liedern, Ordinationen, von den Versuchen, den religiösen Konflikt zu überwinden, bis hin zum Religionskrieg und dem Frieden von Augsburg von 1555. Es schließt sich eine Skizze der römisch-katholischen Antwort an, wie sie das Konzil von Trient gegeben hat. Dieses Konzil stand für Jahrhunderte ganz im Zeichen der Abgrenzung gegenüber den reformatorischen Auffassungen und ihrer Verurteilung. Das Zweite Vatikanische Konzil ermöglichte es der katholischen Kirche, dieses Zeitalter der Abgrenzungen hinter sich zu lassen. In seinem Licht sollen die Dekrete des Trienter Konzils gelesen werden, so dass ihr positiver Gehalt ohne polemische Entgegensetzung zur evangelischen Lehre wahrgenommen werden kann.
Person und Theologie Martin Luthers
4. Lutheraner und Katholiken sind heute in der Lage, grundlegende Themen der Theologie Martin Luthers gemeinsam darzulegen (Rechtfertigung, Herrenmahl, Amt, Schrift und Tradition). Es gelingt ihnen auf ihrem gemeinsamen Weg, sich nicht nur der Person Martin Luthers zu nähern, sondern auch seiner Theologie. Auch hier handelt es sich um eine gemeinsame Darstellung, was aber nicht heißt, dass die Katholiken allen Auffassungen Luthers zustimmen, wohl aber, dass sie Luther so verstehen, wie er hier dargelegt wird. Zu jedem der vier Themen legen die Katholiken ihre Anliegen und Bedenken dar, worauf in summarischer Weise gezeigt wird, wie die jeweiligen Topoi der Theologie Luthers im katholisch-lutherischen Dialog erörtert worden sind. Luthers Theologie wird sowohl in ihrem eigenen Zusammenhang wie im Licht der ökumenischen Dialoge dargestellt.
So erntet das Dokument gleichsam die ökumenischen Früchte und ermöglicht Katholiken wie Lutheranern ein Gespräch und eine Auseinandersetzung mit Luthers Theologie. Die Kontroversen früherer Jahrhunderte in Fragen der Rechtfertigung, der Eucharistie, des Amtes und Schrift und Tradition können zu einem großen Teil als überwunden gelten.
Reformationsgedenken
5. Das Gedenken des Beginns der Reformation ist für Lutheraner und Katholiken heute sowohl Anlass zu gemeinsamer Freude wie zu gemeinsamem Schmerz. Das wird im fünften Kapitel dargelegt. Durch die Taufe sind Katholiken und Lutheraner in dem einen Leib Christi miteinander verbunden. Nach Paulus leiden und freuen sich alle Glieder eines Leibes mit jedem anderen Glied (1 Korinther 11,26).
In diesem Sinn fordert das Zweite Vatikanische Konzil die Katholiken auf, sich auch an den Gaben der "getrennten Brüder" zu freuen. Viele der theologischen Erkenntnisse Martin Luthers, an denen sich evangelische Christen freuen, teilen auch Katholiken, wie der ökumenische Dialog gezeigt hat. Darum können und sollen sich katholische und evangelische Christen auch gemeinsam darüber freuen.
Die Art freilich, wie beide Seiten in der Reformationszeit die Auseinandersetzung geführt haben, ist schuldbeladen: dass sie die Auffassungen ihrer Gegner oft verzeichnet, dass sie gegen das achte Gebot, kein falsches Zeugnis gegen den Nächsten zu geben, verstoßen haben, dass sie, statt die Einheit zu suchen, die Gegensätze verstärkt haben usw. Zu den Konflikten der Reformationszeit haben Akteure von beiden Seiten beigetragen; darum haben hier beide Seiten Schuld zu bekennen. Das Dokument berichtet, wie in der Vergangenheit solche Schuldbekenntnisse sowohl auf katholischer wie lutherischer Seite abgelegt wurden.
Fünf Imperative
6. Gemeinsam kommt Lutheranern und Katholiken immer mehr zu Bewusstsein: Der Streit des 16. Jahrhunderts ist vorüber. Die Gründe, sich gegenseitig zu verurteilen, sind entfallen, wenn auch ein Konsens in allen hier behandelten Fragen noch nicht in Sicht ist. Der Bericht schließt mit fünf Imperativen, die sich aus dem Dargelegten ergeben und die Leserinnen und Leser einladen und auffordern, auf dem Weg vom Konflikt zur Gemeinschaft nicht stehen zu bleiben, sondern weiter zu gehen in Richtung auf eine tiefere Gemeinschaft hin.
- "Der erste Imperativ: Katholiken und Lutheraner sollen immer von der Perspektive der Einheit und nicht von der Perspektive der Spaltung ausgehen, um das zu stärken, was sie gemeinsam haben, auch wenn es viel leichter ist, die Unterschiede zu sehen und zu erfahren."
- "Der zweite Imperativ: Lutheraner und Katholiken müssen sich ständig selbst durch die Begegnung mit dem Anderen und durch das gegenseitige Zeugnis des Glaubens verändern lassen."
- "Der dritte Imperativ: Katholiken und Lutheraner sollen sich erneut dazu verpflichten, die sichtbare Einheit zu suchen; sie sollen gemeinsam erarbeiten, welche konkreten Schritte das bedeutet, und sie sollen immer neu nach diesem Ziel streben."
- "Der vierte Imperativ: Lutheraner und Katholiken müssen gemeinsam die Kraft des Evangeliums Jesu Christi für unsere Zeit wiederentdecken."
- "Der fünfte Imperativ: Katholiken und Lutheraner sollen in der Verkündigung und im Dienst an der Welt zusammen Zeugnis für Gottes Gnade ablegen."
Jesus Christus in den Mittelpunkt
7. Ziel des gemeinsamen Gedenkens an den Beginn der Reformation soll sein, Jesus Christus in den Mittelpunkt zu stellen, ihn zu bekennen und zu feiern als den, "dem allein über alles zu vertrauen ist als dem einen Mittler (1 Tim 2,5f.), durch den Gott im Heiligen Geist sich selbst gibt und seine erneuernden Gaben schenkt" (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre).