Leben im Unklaren: Das schwierige Los von Priesterkindern
Priesterkinder darf es eigentlich nicht geben: Jeder Priester verspricht bei seiner Weihe Ehelosigkeit – ausgenommen die doch sehr überschaubare Gruppe zum Katholizismus konvertierter evangelischer Pfarrer. Und auch wenn der Zölibat eine unstete, umstrittene und widersprüchliche Geschichte haben mag, so steht er doch seit 1917 im Kirchlichen Gesetzbuch und auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) hat die priesterliche Ehelosigkeit wertgeschätzt. Bis heute stehen Gegnern ebenso überzeugte Befürworter gegenüber.
Wenn Priester dann aber doch Kinder haben, fallen diese durch das System: Die Kirche ist auf sie nicht eingestellt, zudem fragen sie als lebendes Zeichen eines priesterlichen Regelbruchs das Selbst- und Weltbild der Kirche an. Die Folge: Vieles ist unklar in Sachen Priesterkinder. So heißt es etwa seitens der Deutschen Bischofskonferenz, dass es dort keinen eigenen Ansprechpartner gebe. Auch offizielle Statistiken existieren weder bei der Bischofskonferenz noch in den Bistümern.
Diese Stille zu durchbrechen, ist daher nicht einfach. Existiert das "Problem" letztlich gar nicht? Es beginnt eine Spurensuche, bei der Betrachter mit Leerstellen und Unklarheiten leben müssen. Die meisten sagen wenig. Die wenigen, die etwas sagen, liefern oft Informationen, die sich widersprechen und sich kaum be- oder widerlegen lassen. Immer wieder beschleicht den Zuhörer die Befürchtung, dass jede Information nur im Dienst der jeweiligen Interessen eines Sprechers steht.
Zahlen sind umstritten
Das fängt schon bei der Frage an, wie viele Priesterkinder es eigentlich gibt: Die vom Iren Vincent Doyle gegründete Organisation "Coping International" geht konservativ geschätzt von mindestens 10.000 Priesterkindern weltweit aus. 95 Prozent davon seien das Ergebnis einer einvernehmlichen Beziehung, fünf Prozent nach Missbrauchshandlungen geboren worden, schätzt Doyle, der selbst Priesterkind ist. Die vom Deutschen David Weber mitgegründete Vereinigung "Menschenrechte für Priesterkinder" spricht dagegen allein für Deutschland, Österreich und die Schweiz von wenigstens 5.000 Priesterkindern. Hochgerechnet auf die Weltkirche wären das also deutlich mehr als die von Doyle geschätzten 10.0000. Keine der Zahlen ist gesichert. Auch die Nachfrage bei den Ortskirchen kann nur ein Schlaglicht werfen. So sagt etwa der ehemalige Personalreferent des Bistums Osnabrück, Domkapitular Ulrich Beckwermert, gegenüber katholisch.de: "Wir haben im Bistum Osnabrück von fünf Priesterkindern in den vergangenen 50 Jahren Kenntnis."
Diese Ungewissheit setzt sich bei der alles entscheidenden Frage fort: Was passiert mit Priesterkindern – und ihren Vätern? Gibt es einheitliche Regeln oder Absprachen? Seit 2017 existiert ein Dokument aus dem Vatikan. Dessen Titel lautet "Anmerkung zur Praxis der Kongregation für den Klerus in Bezug auf Kleriker mit Nachkommen". Der Haken an der Sache: Das Dokument ist nur für den internen Gebrauch gedacht und kann dafür von Bistümern oder Bischofskonferenzen angefordert werden. Wie oft das geschehen ist, ist unklar. Für die Öffentlichkeit einsehbar ist es dagegen nicht.
Der Leiter der Kleruskongregation im Vatikan, Kardinal Beniamino Stella, sagte im Februar 2019 zu den Inhalten des Dokuments, dass Priesterväter ihren Klerikerstand für gewöhnlich aufgeben und sich stattdessen um ihre Kinder kümmern sollen. Fürsorge meint hier also mehr als Unterhaltszahlungen. "Zum Aufwachsen eines Kindes gehören vor allem auch elterliche Zuneigung, eine angemessene Erziehung, all das, was eine wirksame und verantwortliche Vaterschaft ausmacht, gerade in den frühen Lebensjahren", so Stella. Bei Bekanntwerden eines Falles soll ein Priester so schnell wie möglich von seinen Pflichten befreit werden. Ausnahmen von dieser Regelung sollen sehr selten sein.
Anfang 2020 sagte Stella dann allerdings, dass es keinen Suspendierungs-Automatismus gebe. Vielmehr komme es auf das Alter der Kinder und ihre Lebenssituation an. Wird die Vaterschaft eines Priesters erst bekannt, wenn das Kind schon erwachsen ist oder wenn ein Kind in einer stabilen Familie lebt und bereits eine Vaterfigur hat, kann der Ortsbischof eine Einzelentscheidung treffen. "Das Dikasterium rät zu flexiblen Unterscheidungen innerhalb der Richtlinien", lässt sich der Vatikan zitieren.
Aktivisten sind uneins
Ist diese Richtlinie also ein Fortschritt oder zementiert sie nur Altbekanntes? Hier gehen bei den Aktivisten die Meinungen auseinander. Vincent Doyle tut viel dafür, dass immer mehr Details des Textes öffentlich werden. Davon verspricht er sich ein Ende des Schweigens, wie er im Gespräch mit katholisch.de verrät. Bisher, so Doyle, umgebe weltweit Schweigen das Thema Priesterkinder: "Bischofskonferenzen beginnen oft gerade erst, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen." Da könne der Input aus dem Vatikan weiterhelfen.
Weber sieht das anders: Priester auch gerne im Amt und deren Kinder im Unklaren zu lassen, sei lang gepflegte Praxis der Kirche. "Das ist eine Anleitung zur Vorspiegelung falscher Tatsachen", sagt er. Denn wenn ein Kind erst im Erwachsenenalter von seinem wirklichen Vater erfahre und sein Leben lang mit Lügen abgespeist worden sei, "ist das Grundvertrauen des Kindes zerstört, das Selbstverständnis gerät genauso ins Wanken wie das Vertrauen zu Mutter und Vater. Das ist seelische Grausamkeit!" Die katholische Kirche solle sich schlicht an staatliche Gesetze halten, findet er: Demnach habe ein Kind das Recht auf Kontakt zum eigenen Vater – sowie auf Unterhalt und einen Anteil am Erbe.
Aus vielen deutschen Bistümern hört man, dass die Vatikan-Richtlinie sich nur wenig von dem unterscheiden, was längst Praxis ist. Es gehe um die Beurteilung von Einzelfällen, sagt etwa Beckwermert dazu. Werde die Vaterschaft eines Priesters bekannt, dränge man ihn darauf, sich seiner Verantwortung gegenüber Mutter und Kind zu stellen. "Sollte er vor dem Hintergrund den priesterlichen Dienst nicht mehr ausüben können oder wollen, versuchen wir, ihm mit Alternativen zu helfen, zum Beispiel auch durch das Angebot einer Stelle im kirchlichen Dienst ohne priesterliche Funktion." Finanzielle Verpflichtungen müsse er von seinem Einkommen übernehmen. "Das Bistum gewährt keine Zuschüsse oder sonstigen Zahlungen oder trifft irgendwelche Abmachungen", so Beckwermert.
Wie viel Schweigen bei Vereinbarungen?
Dass solche Abmachungen mit Blick auf die Weltkirche aber durchaus existieren, erklärt Weber. In Schweigevereinbarungen, also geheimen Abkommen zwischen Müttern und der Kirche werde der Mutter als Ausgleich für die Verleugnung und Verheimlichung des Priestervaters ein Unterhalt zugebilligt. So erkaufe sich die Kirche niedrigere Zahlen an Priesterkindern. Auf der Webseite seiner Organisation zeigt er eine angebliche Vereinbarung aus dem Jahr 1987 in den USA. Auf solche Deals angesprochen, antwortet Beckwermert: "Von uns aus hat es keine Schweigevereinbarungen oder ein Schweigegeld gegeben. Es wurde nicht verlangt, und ich würde das auch nicht tun! " Auch Personalverantwortliche anderer Bistümer haben auf die Frage nach Schweigevereinbarungen schon angegeben, dass es so etwas bei ihnen nicht gebe.
Zweifel am vollumfänglichen Wohlwollen der Kirche gibt es allerdings auch auf der Seite der betroffenen Priester. So gibt es durchaus Männer, die von einem – vorsichtig formuliert – sehr geringen Interesse der Kirche an ihrem künftigen Leben außerhalb des Priesterstandes berichten. Für bundesweites Aufsehen sorgte der ehemaliger Bamberger Pfarrer Stefan Hartmann, der sich 2014 in einer Talkshow zu einer 24-jährigen Tochter bekannte. Eine Anschlussstelle im kirchlichen Dienst gab es für ihn nicht. Andere wiederum sagen, dass sie zwar im Amt bleiben durften, der Kontakt mit ihren Kindern jedoch von der Kirche unterbunden wurde. Es kommt der Verdacht auf: Es läuft für Mütter, Kinder und Priester immer dann besonders gut, wenn alle Beteiligten die Füße stillhalten und es der Kirche einfach machen. Dieses Schweigen wird nirgendwo festgeschrieben. Auch hier bleiben viele Leerstellen, die ein abschließendes Urteil schwer machen.
Die Zahlen lassen allerdings die Vermutung zu, dass das Verfahren der Kirche mit Priesterkindern weltweit recht unterschiedlich gehandhabt wird. Das hat auch mit der Relevanz dieses Phänomens zu tun. So zitiert "Coping International" Angaben der Kirche auf den Philippinen, wonach in manchen Diözesen gut ein Fünftel der Priester Kinder hat. Der Journalist David Rice sprach in einem Buch Anfang der 1990er Jahre mit Blick auf Peru von 80 Prozent aller Priester, die eine Familie haben. Vergleicht man das mit den Zahlen von Weber, gäbe es andernorts also deutlich mehr Priesterkinder als in Deutschland, was in diesen Ländern auch eher die Vermutung eines erprobten Verfahrens der Kirche in dieser Sache nahelegen würde.
Je nach Land verschieden
Zudem spielt sicher auch die gesellschaftliche Situation und die Einbettung der Kirche in einem Land eine Rolle. In konservativ geprägten Ländern spielen Begriffe wie "Schande", "Diskriminierung" und "Tabu" sicher eine andere Rolle als im vergleichsweise säkularen Deutschland. Doch auch hierzulande finden sich noch Anzeichen der Diskriminierung. David Weber erzählt, er habe schon Aufträge als Übersetzer verloren, als Auftraggeber auch außerhalb der Kirche erfuhren, dass er ein Priesterkind ist.
Bei allen Unsicherheiten lässt sich eines feststellen: Das Schweigen bröckelt. Betroffenenorganisationen erheben immer lauter ihre Stimme. Vincent Doyle hat nun sogar ein Buch zu dem Thema herausgebracht. Im Juni 2019 trafen sich zudem französische Bischöfe mit Priesterkindern. Ein bisschen Bewegung gibt es also, wenn auch immer nur auf Druck von Betroffeneninitiativen. "Ich würde mir wünschen, dass die Deutsche Bischofskonferenz das Thema proaktiv aufgreift", sagt Weber.