Britischer Historiker forscht zu Öffnung in 1930er Jahren

Anglikaner und Katholiken: Unterschiedliche Wege bei der Sexualmoral

Veröffentlicht am 15.09.2024 um 12:00 Uhr – Von Christiane Laudage (KNA) – Lesedauer: 

Bonn ‐ Welche Aufgaben hat die Sexualität in der Ehe? Dient sie nur der Fortpflanzung oder hat sie auch einen weiteren Sinn? Im Jahr 1930 kamen die anglikanische und die katholische Kirche zu unterschiedlichen Antworten.

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Dürfen Ehepaare die Zahl ihrer Kinder begrenzen? Sprich Verhütungsmittel benutzen? Die katholische Kirche und die Anglikaner waren sich einig, dass das verboten wäre. Doch 1930 trennten sich die Wege. Wie die Church of England in den 1930er Jahren über Sexualität nachdachte, ist das Thema eines jüngst erschienen, wissenschaftlichen Aufsatzes von Marc Chapman, britischer anglikanischer Priester, Historiker und Professor an der Universität Oxford.

"Wir wollen den Sexualtrieb von dem Eindruck befreien, dass er immer von negativen Warnungen und Zwängen umgeben ist, und ihm den ihm gebührenden Platz unter den großen schöpferischen und gestaltenden Dingen einräumen", sagte Cosmo Gordon Lang, Erzbischof von Canterbury, im April 1930. Bevor seine Zuhörer auf falsche Ideen kommen konnten, vergaß er nicht zu erwähnen, dass man "nicht zu sehr den Gefühlen und Reizen der Sexualität frönen sollte, ohne dass das Leben verkümmert, das Gott gegeben und Christus erlöst hat und das sein Heiliger Geist so reich und voll und freudig machen kann".

Überraschende Worte von einem Kirchenführer im Jahre 1930? In der Tat, denn Cosmo Gordon Lang war eigentlich eher ein Bewahrer als Erzbischof von Canterbury. Deswegen hatte er auch ein sehr enges Verhältnis zur Royal Family, insbesondere zum Herzog von York und seiner Frau, die wenige Jahre später als George VI. und Elizabeth den Thron bestiegen, nachdem Edward VIII. mit seinem Wunsch, eine geschiedene Frau zu heiraten, die Prinzipien der Church of England und das Moralempfinden der Engländer massiv verletzt hatte.

Ein deutliches Abstimmungsverhalten

Auf den beiden vorangegangenen Zusammenkünften in den Jahren 1908 und 1920 hatte sich die Lambeth Konferenz gegen die Erlaubnis von Verhütungsmitteln ausgesprochen. Im Sommer 1930 stimmten die Bischöfe mit 193 Ja-Stimmen, 67 Nein-Stimmen und 47 Enthaltungen für eine Erlaubnis der Empfängnisverhütung.

In der Resolution 15 heißt es: "Wo es eine klar empfundene moralische Verpflichtung gibt, die Elternschaft zu begrenzen oder zu vermeiden, muss die Methode nach christlichen Grundsätzen entschieden werden. Die erste und naheliegendste Methode ist die völlige Enthaltsamkeit vom Geschlechtsverkehr ... Dennoch stimmt die Konferenz in den Fällen, in denen eine solche eindeutig empfundene moralische Verpflichtung zur Begrenzung oder Vermeidung der Elternschaft besteht und in denen es einen moralisch vernünftigen Grund gibt, die völlige Enthaltsamkeit zu vermeiden, zu, dass andere Methoden angewandt werden können, vorausgesetzt, dass dies im Lichte derselben christlichen Prinzipien geschieht."

Papst Franziskus begrüßt anglikanische Bischöfe
Bild: ©KNA/Paul Haring/CNS Photo

Papst Franziskus begrüßt anglikanische Bischöfe im Oktober 2017 im Vatikan.

Auch wenn die Konferenz nachdrücklich die Anwendung jeglicher Methoden der Empfängnisverhütung "aus Gründen des Egoismus, des Luxus oder der bloßen Bequemlichkeit" verurteilte, wurde hier zum ersten Mal in der Geschichte der Church of England die Sexualität aufgewertet und von dem reinen Zweck der Fortpflanzung getrennt. Die Bischöfe sahen jedoch die Sexualität auch weiterhin nur im Rahmen der Ehe als positiv an.

Walter Carey, damals Bischof von Bloemfontein in Südafrika, verließ empört die Zusammenkunft und schrieb einen Protestbrief an König George V. Nach Erkenntnissen von Chapman waren einige Bischöfe wie zum Beispiel Charles Gore, früher Bischof von Oxford und führendes Mitglied in der anglo-katholischen Bewegung, strikt gegen diese Resolution. Gore sah eine sexuelle Revolution in die Wege geleitet, bei der demnächst auch andere Arten der Sexualität erlaubt würden, die nicht der Fortpflanzung dienten. Er fürchtete eine "Philosophie der Homosexualität", so Chapman. Nach seinen Erkenntnissen war allerdings Homosexualität kein dominantes Thema auf dieser Lambeth Konferenz.

Rom reagiert mit einer Enzyklika

Cosmo Gordon Lang erklärte noch im Frühling vor der Anglikaner-Konferenz: "Heutzutage erkennt man die Sexualität als eine der großen Grundfragen der menschlichen Gesellschaft an, und alle nachdenklichen Christen und Bürger sollten sich an der Diskussion über die großen Probleme beteiligen, die damit verbunden sind." Das nahm man in Rom sehr genau zu Kenntnis und reagierte, weil man völlig anderer Meinung war.

Zum Jahresende 1930 veröffentlichte Papst Pius XI. seine Enzyklika "Casti connubii", die nach Einschätzung des Historikers Matthias Daufratshofer zur "Magna Charta der katholischen Ehe- und Sexuallehre" aufstieg. Der Münsteraner Daufratshofer hat in seiner Doktorarbeit den Jesuiten Franz Hürth (1880-1963) als Autor der Enzyklika identifizieren können.

Bild: ©KNA

Papst Pius XI. war von 1922 bis 1939 das Oberhaupt der katholischen Kirche.

Die Vorbereitungen zu einer Enzyklika über Fragen der Sexualmoral hatten schon begonnen, als sich am 14. August 1930 die Lambeth Konferenz grundsätzlich äußerte. Daufratshofer hat die verschiedenen Bearbeitungsstufen bis zur endgültigen Veröffentlichung nachverfolgen können. Dabei zeigte sich, und das ist im Hinblick auf die folgenden Jahrzehnte wichtig, dass der Jesuit von Anfang an ganz deutlich den Sinn der Ehe in der Zeugung von Nachkommen sah, also die katholische Lehre, wie sie im Kirchenrecht von 1917 festgelegt war, bekräftigte.

Papst Pius XI. war anfänglich durchaus auch aufgeschlossen für eine personale Sicht der Ehe, also der gegenseitigen Liebe der Eheleute. Doch nach den Forschungen von Daufratshofer hat der Moraltheologe Hürth das so weit zurückdrängen können, bis diese personale Sicht der Ehe wie eine kleine Insel in der Enzyklika überblieb. Gleichzeitig wurde in Sachen Empfängnisverhütung in Rom das Verbot in einer Bearbeitungsstufe so aufgeladen, dass es schon fast eine Kathedralentscheidung war, sprich als unveränderbare Lehre der Kirche zu gelten hatte, so Daufratshofer.

Wie ging es weiter?

Die Ehelehre der Enzyklika wurde von dem Jesuiten mit Nachdruck in der Wissenschaft und von Priestern im Beichtstuhl durchgesetzt. Auch im folgenden Pontifikat von Pius XII. blieb Franz Hürth der Vorlagengeber und Berater in allen Fragen der Moraltheologie. "Aus der Frage nach der Verhütung war eine Frage nach dem Lehramt der Kirche geworden", stellt Daufratshofer fest. Denn der Jesuit und Papst Pius XII. rückten die moraltheologischen Fragen, die Pius in seinen Ansprachen behandelte, ganz in die Nähe einer unfehlbaren lehramtlichen Äußerung.

Das hatte klare Konsequenzen für Papst Paul VI. Denn als er in den 1960er Jahren über den Gebrauch der Pille für Eheleute entscheiden musste, hätte er bei einem positiven Urteil die lehramtlichen Äußerungen seiner Pius-Vorgänger in Frage stellen müssen. Mit seiner negativen Entscheidung bestätigte er das päpstliche Lehramt, löste allerdings große Diskussionen aus.

Das ist den Anglikanern erspart geblieben, jedoch blieb bei der anglikanischen Kirche die Einstellung zur Homosexualität ein großes Thema – bis heute, wie der Historiker und Priester Chapman zeigt. Seiner Meinung nach sei die in den 1930er Jahren vertretene Ansicht, die für Christen neben der heterosexuellen Ehe nur den Zölibat als Option vorsieht, bis heute in einigen Teilen der Kirche von England wirksam. Gleichzeitig erheben viele andere weiterhin den Vorwurf der Heuchelei gegen eine Kirche, die behauptet, die Bedeutung des Naturrechts und wissenschaftlicher Erkenntnisse anzuerkennen, während sie es versäume, deren Auswirkungen auf die Sexualmoral herauszuarbeiten, so Chapman.

Von Christiane Laudage (KNA)