"Wir brauchen Zeugen"
Marx ist derzeit auch international ein gefragter Gesprächspartner: Erst im Januar war ein Gespräch mit ihm im US-Jesuiten-Magazin "America" erschienen. Die deutsche Übersetzung des Interviews aus dem Magazin "Études" erschien am Montag online auf der Internetseite der deutschen Jesuiten-Zeitschrift "Stimmen der Zeit". Den ökumenischen Dialog in Deutschland sieht Marx darin auf einem "sehr freundschaftlichen, intensiven Nivau“". Mit Blick auf 2017 und das 500-jährige Reformationsjubiläum werde "ein Weg des Miteinanders" gesucht.
Zuletzt hatte es bei diesem Thema teils heftige Diskussionen gegeben: So hatte sich unter anderem die Frage gestellt, inwiefern Katholiken das Reformationsjubiläum mitbegehen könnten. Ein im vergangenen Mai veröffentlichter "Grundlagentext" der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte außerdem für Verstimmungen gesorgt. Für Marx ist der 500. Jahrestag der Reformation auch "Ansporn und Chance" , weiter auf das Ziel der Einheit der Christen hinzuarbeiten, erklärte er im November vor der in Dresden tagenden Synode EKD. Sorge mache ihm aber, dass in den "Kirchen die Kenntnis der anderen Konfessionen nicht zugenommen hat, dass die ökumenisch Engagierten eher zu den älteren Generationen gehören", wie er nun "Études" sagte. Manche verstünden nicht die Wichtigkeit des theologischen Dialogs und meinten, es komme nur auf die gemeinsamen Aktionen an. "Beides ist wichtig", so Marx. "Aber zur theologischen Diskussion gehört eben auch die Analyse der Welt, in der wir leben."
Nicht mit Nebensächlichkeiten beschäftigen
Es sei der Papst, der durch seine Begegnungen mit Lutheranern, Freikirchen und vor allem mit seinem Treffen mit dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel "neuen Schwung in die ökumenische Bewegung" bringe. Auf die Frage nach Prioritäten im ökumenischen Dialog antwortete Marx, dass es für die inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit schwer verständlich sei, wenn sich die Gesprächspartner mit "Nebensächlichkeiten" beschäftigten. Nicht das Trennende sollte in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern das, "was uns verbindet und das ist doch das Evangelium".
Mit Blick auf seine Tätigkeit als Präsident der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) und seine Arbeit in Europa hob Marx vor allem den Besuch des Papstes im Europaparlament und im Europarat im September hervor. Dort habe Franziskus deutlich gemacht, vor welchen Herausforderungen der "alte Kontinent" stehe. In einer Zeit der Globalisierung müsse Europa als Kraft der "wahren menschlichen Zivilisation verstanden werden und nicht als ökonomische Macht", so der Kardinal. Er selbst bleibe "begeisterter Europäer", auch wenn er Tendenzen der Partikularisierung, neuen Populismus und Nationalismus beobachte. Die Kirche könne helfen, ein soziales Europa aufzubauen. "Wir sollten daran erinnern, dass Europa sich selber nicht verstehen kann ohne seine christlichen Wurzeln", erläuterte Marx.
Es sei Aufgabe der Kirche, Europa eine Seele zu geben. Dies hatte auch Franziskus bei seinem Besuch in Straßburg betont: Die Religion sei für den Kontinent nicht nur das fundamentale Erbe einer 2.000-jährigen Vergangenheit, sondern biete auch die Grundlage für seine künftige soziale und kulturelle Entwicklung. Der christliche Beitrag sei keine Bedrohung für säkulare Staaten, sondern eine Bereicherung und Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität, so der Papst in einer Rede vor dem Europaparlament .
„Wir brauchen keine Religionsunternehmer, sondern Zeuginnen und Zeugen.“
Aufgaben warteten jedoch nicht nur Europa, sondern auch auf die Kirche selbst, stellte Marx im "Études"-Interview fest: So habe sich das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft häufig verändert. "Die Gesellschaft ist, wie sie ist – unterschiedlich, plural, säkular, manchmal der Kirche enger verbunden, in anderen Teilen Deutschlands der Kirche fremd gegenüber", sagte er. "Was wir tun können ist, uns in neuer Weise in diese Gesellschaft einzubringen und Zeugnis zu geben, von dem, was wir vom Evangelium her zu leben und zu sagen haben." Es müsse erfahrbar werden in Wort und Tat, dass der Schritt auf Christus zu ein Qualitätssprung sei und nicht ein rückwärts gewandtes Pflegen von Traditionen, erläuterte der Diözesanbischof von München und Freising.
Er glaube fest daran, dass die Kirche vom Evangelium her in allen Bereichen des menschlichen Wirkens, Denkens und Handels Bereicherungen einbringen kann. Politiker und Philosophen seien durchaus offen für Gespräche. "Aber in unserem Reden, Handeln, auch in unserer Liturgie, im öffentlichen Auftreten, in der konkreten Seelsorge vor Ort muss das auch durch die Qualität unserer Arbeit sichtbar werden", betonte Marx.
Um das zu erreichen sprach sich der Kardinal dafür aus, als Kirche das Evangelium neu zu lesen, zu lernen und danach zu leben. Auf eine neue Situation des Glaubens müsse die Kirche mit neuem Denken antworten. "Wir brauchen keine Religionsunternehmer, sondern Zeuginnen und Zeugen."
Als eine wichtige Debatte nannte Marx im Interview mit "Études" außerdem die Themen Ehe und Familie. Ehescheidung, Zivilehe, Alleinerziehende, das Zusammenleben der jungen Menschen ohne Trauung und Homosexualität seien Themen, die weltweit, wenn auch in unterschiedlicher Priorität, an Bedeutung gewännen, erklärte er mit Blick auf seine Erfahrungen von der Familiensynode im Oktober. Derzeit laufen die Vorbereitungen für die zweite Stufe der Synode im Oktober, bei der sich die Bischöfe erneut mit den Themen auseinander setzen wollen. Auch die deutschen Oberhirten stecken mitten in der Vorbereitung: Erst in der vergangenen Woche haben sie auf ihrer Frühjahrs-Vollversammlung in Hildesheim ihre drei Vertreter für Rom gewählt. Auf der Abschlusspressekonferenz hatte Marx - auch mit Blick auf den Ende Januar veröffentlichten Fragebogen - außerdem betont, dass es den Bischöfen darum gehe, "trotz aller strittigen Fragen den Blick zu weiten und die Verkündigung des Evangeliums der Familie zu erneuern".
Auch wenn die grundsätzlichen Perspektiven des Evangeliums mit Blick auf den Umgang veränderter Realitäten nicht verraten werden dürfte, warnte Marx im nun veröffentlichten Interview deutlich davor, frühere Zeiten zu verklären. "Ob die Verhältnisse im Blick auf Ehe und Familie in anderen Kulturen oder in der Vergangenheit einfach besser waren, wage ich doch zu bezweifeln." Angemessen wäre hingegen eine vertiefte Analyse der heutigen Zeit und auch der positiven Elemente, die sie mit sich bringe. Ansonsten erscheine die Kirche als eine rückwärtsgewandte Institution, die die Menschen von heute nicht verstehe und scheinbar ideale Vergangenheiten restaurieren wolle. "Das hilft niemandem und entspricht nicht der Botschaft des Evangeliums." Dies hatte er auch auf der Frühjahrs-Vollversammlung erklärt: "Die große Zeit des Christentums liegt noch vor uns."
Von Sophia Michalzik