Denkerin ohne Geländer
Frage: Hannah Arendt wäre heute 110 Jahre alt geworden. Was macht die Denkerin und ihr Werk für die heutige Welt relevant?
Pater Fidelis Waton: Hannah Arendt hat immer ein kritisches Denken vertreten. Das stand für sie über allem. Was sie dabei von anderen Philosophen unterscheidet: Viele Philosophen waren zwar auch kritisch, aber sie banden sich in ihrem Denken an eine Denkrichtung. Das kam für Hannah Arendt nicht in Frage. Sie wollte sich an keine Schule binden. Sie wollte frei sein, das heißt, mit den Worten von Kant: Denken ohne Geländer.
Frage: Gleichzeitig war sie auch eine Denkerin, die sehr stark auf die deutsche, auf die europäische Geschichte Bezug nahm. Sie sind in Indonesien geboren und aufgewachsen, lesen Sie Hannah Arendt anders als westliche Leser?
P. Fidelis: In meiner Heimat sind viele noch von alten Ordnungen, Regeln und Traditionen geprägt. Kritisches Denken im Sinne Hannah Arendts hat dort keinen hohen Stellenwert. Auch in der Ausbildung ist kritisches Denken wenig gefordert. Die Idee, kritisch "ohne Geländer" zu denken, war daher für mich etwas Neues, Begeisterndes.
Frage: Die westliche Geschichte spielt eine große Rolle für Hannah Arendts Analysen. Was hat ihr Werk über Europa hinaus zu sagen?
P. Fidelis: Arendts Denken ist zwar sehr europäisch geprägt, aber es hat immer die ganze Menschheit im Blick. Die Menschheit lebt in Pluralität. Dass Menschen nie allein und isoliert existieren können, ist ein wesentliches Element ihrer Theorie. Und deshalb geht ihr Denken auch in die ganze Welt hinaus.
Linktipp: Sie raucht, sie denkt
Hannah Arendt war Prozessbeobachterin des Prozesses gegen den Nazi-Bürokraten Adolf Eichmann in Jerusalem. Ihre Reportage über die "Banalität des Bösen" polarisiert. Die Regisseurin Margarethe von Trotta zeigt in ihrem biographischen Film "Hannah Arendt", wie die Kontroverse um Arendts Reportage ihr Leben verändert.Frage: Es klingen dabei auch Grundbegriffe der katholischen Soziallehre an: Personalität und Solidarität. Wie ist Arendt für die christliche Theologie anschlussfähig?
P. Fidelis: Hannah Arendt war Jüdin, ihr Denken jüdisch geprägt – da ist dann natürlich christliche Theologie anschlussfähig. Bei Arendt stehen der einzelne Mensch in seiner Freiheit und Würde und sein Bezug auf die Gemeinschaft nebeneinander. Menschsein ist für sie Handeln in Gemeinschaft. Wichtig ist für sie vor allem die Pluralität des Menschen. Auch das christliche Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch von Anfang an plural geschaffen ist – nicht nur als Mann und Frau, sondern auch als Mensch in der Gemeinschaft.
Frage: Christliche Anthropologie geht vom Naturrecht aus, Arendt von der menschlichen Freiheit – geht das zusammen?
P. Fidelis: Ja, sehr gut. Etwa in der Frage der Menschenrechte. Sie spricht von einem "eingeborenen Menschenrecht": Jeder Mensch hat das Recht, Rechte zu haben. Das entspricht durchaus auch dem christlichen Naturrechtsgedanken.