"Entweder ist man homosexuell oder nicht"
Vor gut zwei Wochen hat die vatikanische Kleruskongregation neue Leitlinien zur Ausbildung von Priestern veröffentlicht - mit einem umstrittenen Kapitel zur Homosexualität. Der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Problemen und der Sexualität von Seelsorgern. Er sieht in dem Kapitel zur Homosexualität eine Gefahr und hofft deshalb, dass es in den deutschen Diözesen keine Anwendung anfindet.
Frage: Herr Müller, die letzten vatikanischen Leitlinien zur Priesterausbildung waren mehr als 30 Jahre alt. Seit etwa zwei Wochen gibt es neue. Werden darin die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen adäquat aufgegriffen?
Müller: Grundsätzlich ja. Vor allem aus meiner Perspektive als Pastoralpsychologe. Denn neben der theologischen und spirituellen Ausbildung ist auch die psychologische Reife angehender Priester von Bedeutung. Die wird in den neuen Leitlinien ausführlich mitbedacht, indem etwa eine entsprechende psychologische Begleitung vorgesehen ist. Vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals in der Kirche spielt das eine große Rolle. Es ist wichtig, dass die Priester einerseits für Anzeichen von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch sensibilisiert werden. Andererseits soll überprüft werden, ob die Kandidaten die Voraussetzungen erfüllen, um nicht selbst zu Tätern zu werden.
Frage: Wie überträgt man die veränderten Leitlinien nun in die Praxis?
Müller: Im deutschsprachigen Raum kann man da schon auf Bewährtes zurückgreifen. Dort gibt es bereits seit Jahrzehnten den Pastoralpsychologen, der neben dem Regens, dem Spiritual und den Professoren für die Ausbildung der Kandidaten verantwortlich ist. Er erfasst in Einzelgesprächen und Kursangeboten die psychische Entwicklung der Kandidaten. Er hilft ihnen, sich mit ihrer eigenen Identität und Sexualität auseinanderzusetzen. Dabei geht es auch um praktische Fragen: Wie gehe ich damit um, wenn ich mich in jemanden verliebe? Und wie, wenn sich jemand in mich verliebt? Speziell mit Blick auf die Missbrauchsprävention gibt es zudem bereits in allen deutschen Diözesen Leitlinien, die spezielle Kurse für alle hauptamtlichen Mitarbeiter der Kirche vorsehen – und damit auch für die Priester. Selbstverständlich ist es zwingend notwendig, dass man all diese Vorgaben in der Realität auch umsetzt.
Frage: Ein großes Problem in der heutigen Gesellschaft ist die psychische Belastung im "Job". Wie wichtig ist es für Priester, dass sie mit Stress umgehen können?
Müller: Das ist eine Gratwanderung. Auf der einen Seite wollen sich die - meist jungen - Kandidaten ihrer Berufung hingeben und für die Menschen da sein. Das ist ja oft der erste Impuls, um überhaupt Priester zu werden. Das muss während der Ausbildung ernstgenommen und gefördert werden. Auf der anderen Seite müssen die Auszubildenden aber auch vermitteln, dass es dafür gewisse Voraussetzungen braucht. Nämlich, dass man sich in bestimmten Situationen abgrenzen und auch einmal "Nein" sagen muss, um psychisch gesund zu bleiben.
Frage: Eine Studie zur Gesundheit von Seelsorgern hat ergeben, dass diese unmittelbar mit der erfahrenen Anerkennung im Beruf zusammenhängt. Gehört zu der Ausbildung also auch das Vorbereiten auf Enttäuschungen? Die Kirchen werden ja immer leerer...
Müller: Das Problem der Enttäuschung besteht eher bei denen, die schon länger Priester sind. Denn die haben ihr Amt zu einem Zeitpunkt angetreten, zu dem man noch nicht damit rechnen musste, dass es mit der Kirche bergab gehen würde. Die heutigen Kandidaten kennen die Situation um sich herum dagegen meist genau. Sie werden aber dennoch darauf vorbereitet, dass sie in dieser Gesellschaft nicht mehr im Mittelpunkt stehen und "nichts Besonderes" mehr sind. Deshalb ist es aber auch wichtig, dass der Kandidat ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt. Der Priester darf später seinen Wert und seine Berufung nicht von einem Erfolg in Form gut besuchter Gottesdienste abhängig machen. Allerdings sehe ich da in letzter Zeit Probleme. Ich habe den Eindruck, dass die wenigen Kandidaten, die es noch gibt, eher dem "klerikalen Typ" mit narzisstischer Tendenz entsprechen. Sie wollen Priester werden, um gesehen zu werden, und nicht, um andere zu sehen. Da gerät man dann an psychologische Grenzen, wenn es etwa darum geht, ihre Sensibilität für die Mitmenschen zu fördern.
Frage: Geht es um die menschliche Reife, spielt das Thema "Sexualität" eine große Rolle. Auch bei der Ausbildung von Priestern?
Müller: Ja, weil die Sexualität die menschliche Beschaffenheit wesentlich mitbestimmt. Auch die der Priester. Gerade wegen des Missbrauchsskandals hat sich da in den vergangenen Jahren eine Menge getan. Grundprinzip der Ausbildung ist: Auch wenn der angehende Priester - nach momentanem Stand - später zölibatär leben muss, muss er sich mit seiner Sexualität auseinandersetzen. Vielleicht sogar noch viel intensiver als andere Menschen. Die Kandidaten müssen dazu stehen, dass sie sexuelle Wesen sind und dass sie diese Sexualität auch spüren. Die eigene sexuelle Ausrichtung muss bejaht und angenommen werden, um über sie zu verfügen. Der spätere Verzicht auf Geschlechtsverkehr bedeutet auch nicht, dass ich auf innige, tiefe und menschlich nahe Beziehungen verzichten muss. Wer so seine Sehnsucht nach Nähe stillt, kann zumindest auch einen Teil des sexuellen Verlangens neutralisieren. Was dagegen auf keinen Fall passieren darf, ist, die Sexualität zu verdrängen. Dann nämlich entstehen die Probleme, die wir in der Kirche zu Genüge kennen. Denn Sexualität sucht sich immer ihren Weg.
Frage: Kommen wir noch einmal zurück zu den neuen Leitlinien zur Priesterausbildung. Gerade mit Blick auf die Homosexualität tauchen dort einige fragwürdige Formulierungen auf...
Müller: An diesem Punkt muss ich scharfe Kritik an den Richtlinien der Kleruskongregation üben. De facto besagen sie, dass ein homosexueller Mann nicht geweiht werden darf. Wir haben es hier mit einem Dilemma für die Priesterausbildung zu tun. Denn definitiv werden homosexuelle Männer geweiht. Meinen Kenntnissen nach sind weit über 20 Prozent aller Priester homosexuell. Das Problem ist aber, dass es auch für einen Homosexuellen wichtig ist, zu seiner Homosexualität zu stehen und dazu "Ja" zu sagen. Denn es ist nicht nur etwas Genitales, sondern macht das Wesen des jeweiligen Menschen aus. Wenn der nun offiziell "Nein" zu seiner Sexualität sagen muss, weil die in den Augen der Kirche etwas Schlechtes ist, sagt er auch "Nein" zu sich selbst.
Linktipp: Homosexuelle weiterhin von Weihe ausgeschlossen
Der Vatikan hat eine neue Ordnung der Priesterausbildung erlassen. Darin wird die bisherige Haltung zur Weihe Homosexueller bekräftigt. In einem anderen Bereich soll dafür ein Umdenken stattfinden.Frage: Was resultiert daraus?
Müller: Die Richtlinien sehen ja vor, dass sich der Kandidat gegenüber dem Bischof, dem Regens oder dem Spiritual öffnen muss. Meine Erfahrung ist, dass der angehende Priester natürlich einen Teufel tun wird, sich zu "outen". Die Folge ist, dass er sich eben gerade nicht - wie vorgesehen - mit seiner Sexualität auseinandersetzt. Das kann dazu führen, dass die sexuelle Reife beeinträchtigt wird. Die Formulierung in den Richtlinien, dass jemand zugelassen werden kann, der "homosexuelle Tendenzen" zeigt, "die bloß Ausdruck eines vorübergehenden Problems" seien, ist natürlich Unsinn. Entweder ist man homosexuell oder nicht. Die Formulierung dient als Schlupfloch und fördert genau das eben beschriebene Verhalten. Deswegen fordere ich schon lange, den Passus zur Homosexualität zu streichen. Bisher wurde die Instruktion aus dem Jahr 2005, auf der die neue Richtlinie beruht, in den meisten deutschen Diözesen gar nicht angewendet. Auch von den neuen Richtlinien dürfte man daher nicht viel halten. Aber distanziert hat sich bisher auch noch niemand.
Frage: An der entsprechenden Stelle heißt es, dass diejenigen nicht zur Weihe zugelassen werden können, "die Homosexualität praktizieren, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine sogenannte 'homosexuelle Kultur' unterstützen". Wieso formuliert die katholische Kirche im 21. Jahrhundert so einen Satz?
Müller: Weil sie letztlich, wie es der emeritierte Papst Benedikt XVI. einmal formulierte, in Homosexuellen Menschen sieht, "deren Stellung zu Mann und Frau irgendwie verändert, irritiert ist, auf jeden Fall nicht in Schöpfungsrichtung steht". Das "praktizierende Homosexuelle" ausgeschlossen sind, ist an sich allerdings schon eine diskriminierende Formulierung, da sie suggeriert, homosexuelle Menschen bräuchten noch einmal eine gesonderte Warnung gegenüber heterosexuellen, die ja ebenfalls zölibatär leben müssen.
Frage: Ist der Begriff "homosexuelle Kultur" nicht auch diskriminierend? Über eine "heterosexuelle Kultur" liest man in den Richtlinien nämlich nichts.
Müller: Ja, auch die Formulierung ist eher unglücklich. Meint sie Menschen, die nach außen deutlich signalisieren, dass sie schwul sind, die sich öffentlich für das Thema Homosexualität engagieren? Oder meint sie Personen, die in der "Schwulenszene" unterwegs sind? Letzteres wäre auch für eine heterosexuelle Person, die ihre Sexualität in einem vergleichbaren Umfeld lebt - man denke etwa an die Prostitution -, ein möglicher Grund, sie von der Zulassung zum Priesteramt auszuschließen.
„Diese Formulierung ist aus wissenschaftlicher Sicht in keiner Weise haltbar.“
Frage: Und was sagt der Psychologe zu den "tiefgreifenden homosexuellen Tendenzen"?
Müller: Das hat schon etwas Tragisches an sich. Diese Formulierung ist aus wissenschaftlicher Sicht in keiner Weise haltbar. Bereits in den 1970er Jahren hat die amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie die Homosexualität aus dem Glossar der psychiatrisch relevanten Symptome gestrichen. Die Kleruskongregation übergeht einfach den wissenschaftlichen Stand, der davon ausgeht, dass die Homosexualität eine sexuelle Veranlagung ist, deren Veränderung man so gut wie ausschließen kann. Dass dann noch dazu gedichtet wird, dass Homosexuelle nicht beziehungsfähig seien und nicht mit ihrer Sexualität umgehen könnten, entspricht einfach nicht der Wirklichkeit. Natürlich gibt es Homosexuelle, die nicht beziehungsfähig sind. Genauso gibt es aber auch Heterosexuelle, die das nicht sind. Das hat nichts mit ihrer Veranlagung zu tun.
Frage: Unglücklich scheint auch die Platzierung des Kapitels über Homosexuelle in den Richtlinien. Unmittelbar davor geht es um psychische Krankheiten, danach um das Thema Kinderschutz. Ist das ein Zufall?
Müller: Das glaube ich nicht. Bevor sie besser erforscht wurde, galt die Homosexualität offiziell als Krankheit. Leider hat sich in der Kirche dieses alte Bild des Kranken und Defizitären gehalten. Auch der Zusammenhang zwischen Homosexualität und Kindesmissbrauch wird ja häufig hergestellt. Der ist aber genauso wenig haltbar wie der zwischen Heterosexualität und Vergewaltigungen.
Frage: Was erwarten Sie nun von den deutschen Bischöfen?
Müller: Ich wünsche mir, dass die Bischöfe mit Blick auf das Thema Homosexualität ganz klar sagen: "Hier unterscheiden wir uns von der römischen Instruktion. Kandidaten, die homosexuell sind, die wir aber für geeignet erachten, weihen wir auch." Damit würden sie das ernst nehmen, was Papst Franziskus selbst sagt. Nämlich, dass die Ortskirchen ihre eigene Verantwortung übernehmen. Wichtig wäre es zudem, das auch nach außen zu kommunizieren. Es wäre eine Wertschätzung für die über 20 Prozent der Priester, die homosexuell sind.