Vom Stolz und Scham des Flaschensammelns

Ich. Bin. Arm.

Veröffentlicht am 28.08.2014 um 00:00 Uhr – Von Jens Wiesner – Lesedauer: 
Gesellschaft

Hamburg ‐ Diese Geschichte hat viel mit Scham zu tun. Eine Geschichte, in der Menschen in Mülleimern wühlen, kommt nicht ohne Scham aus. Geld spielt ebenfalls eine Rolle - sehr viel Geld und erschreckend wenig. Vor allem aber erzählt diese Geschichte von Stolz. Vom Stolz darauf, selbstbestimmt gegen die eigene Armut zu kämpfen.

  • Teilen:

"Nee, acht Cent nehm' ich nicht. Nur Plaste ab 15!" Der Mann mit den zwei abgegriffenen Plastiktüten in der Hand zuckt entschuldigend mit den Schultern. Und ich bin für einen Moment sprachlos. Seit zwei Stunden sitze ich mit Freunden im Hamburger Schanzenpark. Das Wetter ist hervorragend, der Grill läuft ebenso gut wie das Bier unsere Kehlen herunter. Gerade habe ich eine neue Flasche geleert und den schwer bepackten Mann, der von Grüppchen zu Grüppchen über den Rasen schlendert, herbei gewunken. Vor einigen Jahren noch wäre er mir als seltsam aufgefallen. Ich hätte mich gefragt, ob er obdachlos ist, vielleicht etwas verkaufen oder betteln will. Ganz sicher hätte ich ihn nicht aktiv angesprochen.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Flaschensammler gehören zum Stadtbild, nicht nur in Hamburg. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es Menschen gibt, die sich täglich auf Pfandsuche begeben und dafür auch beherzt in stinkende Mülleimer greifen. Allerdings bleibt ihnen der Griff in den unbekannten Ekel immer häufiger erspart. Denn wer seine Pfandflaschen nicht neben die Mülltonne stellt, sondern darin versenkt, erntet mit Sicherheit einen bitterbösen Blick dafür. Nicht von den Pfandsammlern selbst, sondern von anderen Passanten. In den vergangenen Jahren ist eine Art ungeschriebener Kodex in Hamburg entstanden: Wer unterwegs etwas trinkt und nicht auf das Pfandgeld angewiesen ist, der bringt seine Flasche nicht wieder zurück zum Kiosk. Man stellt sie stattdessen neben einen Mülleimer oder drückt sie einem Sammler direkt in die Hand. Die Kampagne einiger findiger Werber hat gewirkt: Pfand gehört daneben!

Glasflaschen lohnen sich nicht

Und nun möchte dieser Pfandsammler mein Geld nicht haben? Ich fühle eine Mischung aus Trotz und Scham in mir aufsteigen. "Dann eben nicht. Wer nicht will, der hat schon!" gifte ich beinahe zurück und merke glücklicherweise noch rechtzeitig, wie unendlich arrogant das wäre. Gleichzeitig fühle ich mich ertappt. Ich wollte bequem eine Flasche loswerden, die für mich nur noch Abfall ist, und mich dabei noch generös geben.

Der Mann scheint mein Unbehagen zu spüren: "Entschuldigung, aber Glasflaschen lohnen sich für mich einfach nicht", erklärt er mir. Sie seien zu schwer und zu umständlich zu transportieren für das wenige Geld, das sie bringen. Aber wenn ich sie an den Mülleimer stellen würde, käme sicher bald jemand vorbei, der besser ausgerüstet sei als er - oder das Geld noch nötiger habe. Tatsächlich muss ich nicht lange warten: Kaum zehn Minuten sind vergangen, da läuft eine alte Dame mit Einkaufstrolley den Gehweg entlang, schaut einmal kurz in alle Richtungen, als würde sie gleich eine Straftat begehen, bückt sich dann viel zu tief und viel zu schnell nach meiner Flasche, legt sie in ihren Trolley und huscht fort. Wann hat all das angefangen, frage ich mich?

Stephan Karrenbauer arbeitet bei der Hamburger Obdachlosenmagazin "Hinz & Kunzt".
Bild: ©Mauricio Bustamante

Stephan Karrenbauer arbeitet bei der Hamburger Obdachlosenmagazin "Hinz & Kunzt".

High-Tech-Abfalltonnen gegen Flaschensammler

Stephan Karrenbauer weiß die Antwort. Seit 1995 arbeitet der 52-Jährige als Sozialarbeiter beim Hamburger Obdachlosenmagazin "Hinz__amp__Kunzt" Die Lobby für Obdachlose ist stark in Hamburg. Als das Bezirksamt 2011 einen Stahlzaun um eine Brücke errichtete, damit kein Obdachloser mehr darunter nächtigen konnte, schlug den Behörden eine derart große öffentliche Empörung entgegen, dass das 18.000 Euro teure Gebilde nach einer Woche wieder abgerissen werden musste.

Ähnlich heftig war die Aufregung bei der Sache mit den Luxus-Mülleimern: Hamburg hatte sich für den Innenstadtbereich 160 High-Tech-Abfalltonnen geleistet, die es Flaschensammlern aber unmöglich machten, in die Behälter zu greifen und nach weggeworfenen Pfandflaschen zu suchen. Ein Pfandsammler schrieb sich daraufhin in "Hinz und Kunzt" seine Wut von der Seele, Medien aus aller Welt griffen das Thema auf, die offiziellen Stellen dementierten jegliche Absicht - und am Ende montierte die Stadtreinigung ein paar Pfandregale an die futuristischen Tonnen (genauer gesagt an 10 von 160), um die Kritiker zu besänftigen. Dass alles nur ein Versehen war, man schlicht die Konsequenzen für Flaschensammler nicht bedacht hatte, glaubt Karrenbauer nicht. Tatsächlich wirbt der Mülleimer-Produzent aktiv damit, dass ein "Hineingreifen/Fischen im inneren Behälter ausgeschlossen" ist.

Verwunderlich ist diese Art von Werbung kaum - zerstört das Bild vom Pfandsammler doch die heile Glitzerwelt, die Stadtmarketing und Geschäfte so gerne aufrecht erhalten. Wer wird schon gerne mit real existierender Armut konfrontiert, wenn er gerade vollbepackt von der Shoppingtour auf die Straße tritt. "Eure Armut kotzt mich an", bringt es ein zutiefst zynischer Spruch auf den Punkt. Aber das ist nur die eine Seite: "Wer sieht, dass es Menschen gibt, die darauf angewiesen sind, im Müll zu wühlen, macht sich Gedanken", sagt Karrenbauer. Unbequeme Gedanken über Gerechtigkeit, soziale Verteilung und über Armut, die plötzlich viel präsenter im Alltagsleben geworden ist - und irgendwann vielleicht auch die eigene Person treffen könnte.

Die Scham beim Griff in den Eimer

Einst war Karrenbauer selbst als Flaschensammler unterwegs. Als Jugendliche liefen er und seine Kumpels über Baustellen, um leere Bierflaschen einzusammeln. Und genauso wie die Pfandsammler von heute waren die Jungs gut organisiert. Mit Tüten hielt man sich erst gar nicht auf, es ging mit der Schubkarre auf Tour. "Zehn Pfennige gab's im Krämerladen für jede Flasche; wenn wir fünf Mark hatten, waren wir reich!" Doch während die Preise immer weiter stiegen, blieb das Pfandniveau gleich. Irgendwann lohnten sich die Touren nicht mehr. Das änderte sich erst wieder mit den neuen Pfandgesetzen in Deutschland, der Einführung des Einwegpfands auf Plastik und Dosen im Jahr 2002.

"In den Köpfen der armen Leute ist die Idee, das damit Geld zu machen sei, wohl in dem Moment angekommen, als die 25-Cent-Flaschen eingeführt wurden", vermutet Karrenbauer. "Vier Flaschen für einen Euro - das ist schon eine Hausnummer." Zusätzlich habe die Einführung der Hartz-Gesetze die Menschen auf der Suche nach alternativen Einkommensquellen auf die Straße getrieben: Menschen, die vorher Arbeitslosengeld bekommen hatten, standen plötzlich mit weniger als 400 Euro im Monat da.

Darum seien die meisten Flaschensammler auch längst keine Obdachlosen mehr, erklärt Karrenbauer. "Der Verteilungskampf der Armen auf der Straße ist viel härter geworden." Das deckt sich mit meinen Beobachtungen: Manchmal kann ich es gar nicht glauben, wer da vor mir in der U-Bahn oder im Park in die Mülleimer greift. Ein Mensch kann heutzutage gute Kleidung tragen und gepflegt aussehen - und trotzdem das Pfandgeld bitter nötig haben. Gerade bei älteren Damen und Herren, deren Rente offenbar nicht ausreicht, bemerke ich oft eine besondere Scham. Denn jeder Griff in den Abfall ist auch ein Offenbarungseid - und ein Rampenlichtmoment. Seht her, sagt die Hand, die im Schlund der Abfalltonne verschwindet: Ich. Bin. Arm. Und weil ich spüre, dass es ihnen unendlich unangenehm wäre, traue ich mich nicht, sie anzusprechen - auch nicht für diese Geschichte. Das Schamgefühl funktioniert in beide Richtungen.

Player wird geladen ...
Video: © Katholische Fernseharbeit

Gewissensfrage: Pfandring (Sendung vom 12.08.2014)

Maximal 20 Euro Tagesverdienst

Doch nicht alle Pfandsammler empfinden Scham ob ihrer Tätigkeit. Eine ganze Reihe von ihnen geht offensiv und mit erhobenem Kopf an die Arbeit. Sie sehen sich als selbstständige Unternehmer, sind extrem durchorganisiert und investieren in ihre Tätigkeit, indem sie sich möglichst praktische Transportmittel für möglichst viele Flaschen zulegen.

Auf der Straße liegt das Geld aber nicht. Ein professioneller Sammler, der den ganzen Tag über diszipliniert seine Route abläuft, kommt mehreren Aussagen zufolge auf maximal 15 bis 20 Euro. Andere Sammler sprechen dagegen von einem Durchschnittsverdienst, der fünf Euro am Tag nicht überschreitet. Anders sieht es aus, wenn eine Großveranstaltung ansteht, viele Menschen sich auf engem Raum drängen, viel getrunken und ein hohes Becherpfand erhoben wird und keine zusätzlichen Pfandmarken die Massenabgabe verhindern. Gerade dann macht sich die Professionalisierung bezahlt. Nachdem ein Nachbar von mir kürzlich von einem Festival zurückkam, berichtete er staunend von einem Flaschensammler, der mit einem extralangen Sprinter vorgefahren sei. "Am Ende war der bis obenhin voll, die Türen gingen gar nicht mehr zu!"

"Die Supermärkte ärgern sich natürlich tierisch über Leute, die weggeworfenes Pfand wieder dem Kreislauf zuführen", erklärt Karrenbauer. Denn jede weggeworfene Mehrwegflasche bedeutet einen direkten Zusatzgewinn, am Einwegpfand verdienen die Supermärkte über den Umweg als Getränkehersteller. Und das Kleinvieh läppert sich: Aus dem Geschäftsbericht von Rewe für das Jahr 2011 lässt sich ablesen, dass das Unternehmen allein zwölf Millionen Euro Plus mit Einwegpfand gemacht hat. (Im Geschäftsbericht für 2013 ist der Posten unter "Sonstige betriebliche Erträge" nicht mehr gesondert aufgeführt.) Während bei der Einführung des "Einwegzwangspfandes" noch mächtig gemosert wurde, hat sich das Geschäft mit den Plastikflaschen und Dosen mittlerweile als so lukrativ erwiesen, dass manche Supermarktketten längst eigene Abfüllstationen betreiben.

Sozialer Nutzen des Flaschensammelns

Trotzdem gilt am anderen Ende der Nahrungskette: "Die Tätigkeit des Pfandflaschensammlers reicht nicht aus, um das Überleben zu sichern." Erst recht nicht, wenn man die Sondereinkünfte offiziell anmelden würde und sie damit auf Hartz-IV oder Rente angerechnet würden. So stellt es zumindest der Soziologe Sebastian J. Moser fest, der sich als einer der ersten Wissenschaftler überhaupt mit dem Phänomen in Deutschland beschäftigt hat. Für seine Dissertation "Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur" hat er jahrelang heimlich die Routen und das Verhalten von Sammlern beobachtet, knapp 30 hat er mit verstecktem Mikro interviewt.

Eine überraschende Erkenntnis seiner Forschungen: Ein Pfandsammler ziehe nicht nur monetären, sondern auch sozialen Nutzen aus seiner Tätigkeit, die Moser auch als einen Kampf gegen die Vereinsamung und für mehr gesellschaftliche Akzeptanz deutet. Wie im Falle von Dieter, der in der Studie stolz von Polizisten, Club- und Parkhausbesitzern spricht, die ihm dankbar dafür seien, dass jemand "das Zeug wegräumt". Für einen kurzen Moment begebe sich der Pfandsammler zurück in eine Gesellschaft, deren Teil er schon lange nicht mehr ist, schlussfolgert Moser, kommt insgesamt aber zu einer ernüchternden Erkenntnis: Die erhoffte Dankbarkeit bleibt auf der Gegenseite häufig aus, das soziale Stigma der Armut und des Im-Müll-Wühlens wiegt zu schwer. In Extremfällen würden die Sammler gar aufs Übelste von ihrer Umgebung beschimpft oder dem Spott ihrer Mitmenschen ausgesetzt.

Gerade deshalb hält Karrenbauer Aktionen wie "Pfand gehört daneben" für wichtig. "Das hat einfach etwas mit Würde zu tun, dass die Leute nicht im Müll wühlen müssen". Für die Zukunft hofft der Sozialarbeiter, dass Pfandsammeln in der breiten Gesellschaft endlich als das wahrgenommen wird, was es für die meisten Sammler längst ist: eine regelmäßige, selbstbestimmte, strukturierte Arbeit. Eine Arbeit, für die sich niemand schämen muss. Auf beiden Seiten der Flasche.

Von Jens Wiesner