Eine Zeit in der Wüste
Frage: Frau Reuveni, Sie haben fast sechs Jahre lang Ihre an Alzheimer erkrankte Mutter betreut. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Reuveni: Der demente Mensch verliert seine kognitiven Fähigkeiten. Die emotionalen Fähigkeiten bleiben erhalten bis zum Schluss. Auch der dementiell veränderte Mensch ist und bleibt "im Bild Gottes geschaffen", wie es uns die Schöpfungsgeschichte der Bibel erzählt. Von daher hat er seine Würde, egal, was er noch kann oder nicht mehr kann. Für mich war es – mit einem biblischen Bild gesprochen – wie eine Zeit in der Wüste. Ich habe meine Mutter durch diese Zeit der Wüste begleitet nie wissend, was am jeweiligen Tag kommen wird. Dadurch lebt man sehr stark in der Gegenwart.
Frage: Welche Erlebnisse haben Sie besonders geprägt?
Reuveni: Neben dem vielen Schmerzlichen gab es viel Überraschendes und Neues, eben auch die Oasen. Es stimmt einfach nicht, dass Demenz nur Abbau bedeutet. Noch in ihrer letzten Lebenswoche hat meine Mutter erstmals in ihrem Erwachsenenleben gemalt. Sehr wichtig waren für sie die wöchentlichen Besuche eines Therapiehundes. Auch hat sie in ihrer letzten Lebensphase im Heim wieder Zugang zur Religion ihrer Kindheit gefunden. Sie, die in ihrem Erwachsenenleben nichts mit Religion am Hut hatte, hat regelmäßig am Gottesdienst und anderen religiösen Angeboten teilgenommen. In der letzten Adventszeit ihres Lebens wollte sie immer wieder das Lied "Maria durch ein Dornwald ging" singen, wahrscheinlich weil sie in dem "Dornwald" etwas von ihrer Lebenssituation gesehen hat. Es hat sie sehr getröstet. Ich durfte das alles mit ihr erleben und empfinde es als Geschenk.
Frage: In einem Ihrer Beiträge schreiben Sie, dass pflegende oder betreuende Angehörige unsichtbar sind. Was meinen Sie damit?
Reuveni: Als pflegende Angehörige ist man rund um die Uhr im Einsatz. Auch nachts wird vom Kranken Hilfe benötigt, etwa bei Toilettengängen oder bei nachtaktiven Kranken. In einer Nacht – das war meine extremste Erfahrung – bin ich 17 Mal aufgestanden. Man ist in einem Zustand dauernder Müdigkeit – ähnlich wie bei sehr kleinen Kindern, nur dass bei Kindern ein Ende absehbar ist. Die sozialen Kontakte nehmen ab, weil Freunde und Bekannte sich zurückziehen. Man selber ist damit beschäftigt, irgendwie über die Runden zu kommen. Deshalb werden pflegende und betreuende Angehörige kaum bis gar nicht wahrgenommen und haben auch keine Energie, sich im öffentlichen Raum mit ihren Anliegen bemerkbar zu machen.
Frage: Wie könnten Gesellschaft und Politik Angehörige besser unterstützen?
Reuveni: Oft sind es alte Menschen, die ihre Ehepartner pflegen. Deshalb ist die jährliche Zeit der Verhinderungspflege von drei Wochen zu kurz. Das ist die Zeitspanne, in der der pflegende Angehörige Anspruch darauf hat, ohne zusätzliche Kosten den Kranken in einem Heim unterzubringen, für eine Erholungszeit oder eigene Krankenhausaufenthalte. Der Aufwand an Papierkram mit der Pflegekasse, Versorgungsamt und anderen Leistungsträgern ist sehr zeitintensiv und nervenaufreibend. Hier könnten Patenschaften für pflegende Angehörige entlasten, bei denen etwa Menschen im Ruhestand, die früher bei Banken, Versicherungen oder Verwaltungen gearbeitet haben, Unterstützung in diesem Bereich anbieten. Auch die finanziellen Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige müssten verbessert werden. Wer keine Leistungen eines Pflegedienstes in Anspruch nimmt, erhält je nach Pflegestufe gerade mal zwischen 235 und 700 Euro monatlich.
Frage: Was bedeutet die Pflege eines demenzkranken Elternteils für die eigene Partnerschaft?
Reuveni: Mein Partner, der selbst in dieser Zeit erkrankte, war glücklicherweise sehr unterstützend und hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Die beiden sind regelmäßig in den Gottesdienst gegangen und hatten viel Freude an Spaziergängen. Sie hatten eigene Bereiche, mit denen ich nichts zu tun hatte. Für die Partnerschaft ist es sehr wichtig, sich immer wieder gemeinsame Zeiten zu nehmen, das Eigene zu pflegen – etwa ein Hobby – und sich nicht von der Demenz "auffressen" zu lassen, was leichter gesagt als getan ist. Sehr wichtig ist es auch, sich so früh wie möglich ein Unterstützungsnetzwerk aus Pflegedienst, Tagespflege, Nachbarn, Selbsthilfegruppe und so weiter aufzubauen.
Frage: Woraus haben Sie Kraft geschöpft in Ihrer Welt jenseits der Demenz?
Reuveni: Für mich war es wichtig, immer wieder zu überlegen, was "Energiespender" und was "Energieräuber" sind und zu überprüfen, wie ich die Energieräuber reduzieren kann. Die wichtigsten Energiespender waren die Beziehung zu meinem Partner und meine religiöse Praxis, also Meditation, Gebet und Geschichten aus der Bibel. Besonders in den Psalmen, die von Menschen in allen Zeiten gebetet wurden, habe ich oft Worte gefunden, wenn ich keine eigene Sprache mehr hatte. Musik, Natur und kreatives Gestalten waren für mich auch sehr hilfreich. Als Jüdin war für mich besonders der Sabbat, also die wöchentliche Auszeit von Freitagabend bis Samstagabend wichtig. In den ersten Jahren habe ich auch eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige besucht. Der gemeinsame Austausch half, weil jeder Dampf ablassen konnte und gleichzeitig Anregungen durch andere Teilnehmende erhielt.
Das Interview führte Janina Mogendorf