Johannes: Das theologischste Evangelium
Das Johannesevangelium ist in jeder Hinsicht anders: Es beginnt anders, liest sich anders, enthält oft Inhalte, die sich in den anderen Evangelien nicht finden. Unter den vier Evangelien gibt es bis heute noch die größten Rätsel auf. Dazu gehören nicht nur die Verfasserfrage, sondern auch die literarische Eigenart und die theologische Gedankenwelt.
Das vierte und jüngste der Evangelien – es soll gegen 80 bis 100 nach Christus entstanden sein – ist zunächst einmal nichts für Anfänger: Es setzt die Jesustraditionen voraus, die bei den drei "Synoptikern" Matthäus, Markus und Lukas stehen, erzählt die Geschichte aber mit ganz eigenen Schwerpunkten – vor allem legt es Wert auf das Bekenntnis zu Jesus Christus als das menschgewordene Wort Gottes. Es gilt als das "theologischste" Evangelium, aber in einfacher, klarer Sprache und mit einer intensiven Spiritualität – somit ist es doch etwas für Einsteiger und wird nach Aussage des Neutestamentlers Thomas Söding intensiv in der Katechese genutzt.
Das Johannesevangelium übt eine Faszination aus, denn in ihm macht Jesus prägnante Aussagen über sich selbst wie "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6), "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" (Joh 15,5) und "Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern" (Joh 6,34). Neben Selbstaussagen und Monologen Jesu finden sich auch berühmte Dialoge im vierten Evangelium, etwa das Gespräch mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4), mit Maria Magdalena im Garten nach der Auferstehung (Joh 20) oder im Nachtrag zum Evangelium, als er Petrus dreimal fragt, ob dieser ihn liebe.
Zeichentätigkeit und zugleich Kritik am Wunderglauben
Von den sieben "Zeichen", die Jesus im Johannesevangelium wirkt, tauchen nur drei in einem anderen Evangelium auf. Die bekanntesten Wunder bei Johannes sind das erste, die Verwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2), und das letzte, die Auferweckung des Lazarus (Joh 11). Dabei wird die reine Wundergläubigkeit im Evangelium selbst problematisiert: "Diese (Zeichen) aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen", heißt es am ursprünglichen Ende des Evangeliums (Joh 20,31). Da die "Zeichen" eine theologische Bedeutung enthalten, sind sie oft Anlass für eine Rede Jesu oder er sagt selbst "Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht" (Joh 4,48).
Einzigartig ist bereits der Beginn des Evangeliums: Während Matthäus mit Jesu Stammbaum startet, Lukas mit seiner Geburt und Markus mit der Taufe Jesu, setzt Johannes mit dem wohl bekanntesten Prolog der Literaturgeschichte ein. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott." Die Quintessenz dieses Hymnus lautet: Jesus war schon immer beim Vater (Präexistenz) und ist Mensch geworden (Inkarnation), was schon immer der Wille Gottes war und seine Schöpfung vollendet. In den folgenden Kapiteln geht es dann um Jesu Wirken auf der Erde und die Offenbarung vor seinem Volk (Kapitel 2 bis 10). Schon die Kapitel 11 und 12 in der Mitte des Evangeliums sind eine Überleitung zu seiner Passion: Jesus weckt seinen seit vier Tagen toten Freund Lazarus auf und zieht nach Jerusalem ein. Es folgen dann nach der Fußwaschung im Rahmen des letzten Abendmahls die langen Abschiedsreden an den Jüngerkreis (bis Kapitel 16) und ein großes Gebet zum Vater. In den anderen Evangelien gibt es keine Entsprechung zu all dem, was in den Kapitel 13 bis 17 steht.
Auch das Leiden, der Tod und die Auferstehung (Kapitel 18 bis 20) weisen Eigenheiten und eine spezielle Dramaturgie auf. So scheint der Pilatusprozess fast schon wie ein Theaterstück gegliedert zu sein mit Außen- und Innenszenen, zwischen denen der zerrissene Pilatus wechselt und mit Jesus über sein Königtum und über die Wahrheit diskutiert. In der "ecce homo"-Aussage des Pilatus ("Seht, da ist der Mensch") wird klar, dass der gedemütigte und vorgeführte Jesus nicht nur Gott ist, sondern auch wahrer Mensch, der seine Würde nicht verliert.
Lieblingsjünger als Verfasser?
Im Zuge der Passion ist im Johannesevangelium immer wieder vom Lieblingsjünger Jesu die Rede: "Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn!" (Joh 19,26). Im redaktionellen Nachtrag zum Evangelium im 21. Kapitel heißt es, dass dieser Jünger es sei, der "all das" bezeugt und aufgeschrieben habe. Daraus ergab sich die Tradition in der Kirche, dass dieser namenlose Lieblingsjünger der Verfasser des Evangeliums sei. Der ursprünglich anonyme Text erhielt seit dem 2. Jahrhundert die Überschrift "Evangelium nach Johannes". Um das Jahr 180 identifizierte der Kirchenvater Irenäus von Lyon den Lieblingsjünger mit dem Johannes, Sohn des Zebedäus, der in den drei anderen Evangelien genannt wird, mit dem Presbyter Johannes, der die Johannesbriefe des Neuen Testaments schrieb und mit dem Verfasser der Apokalypse, dem letzten Buch der Bibel.
Der Apostel Johannes aus den synoptischen Evangelien gehörte wohl zuerst zu den Jüngern Johannes des Täufers bevor er sich Jesus anschloss. Wie sein Bruder Jakobus stammte er aus Betsaida und war Fischer. Wegen ihres heftigen Temperaments nannte Jesus sie "Donnersöhne" – und sie beide standen gemeinsam mit Petrus Jesus besonders nahe. Über das spätere Schicksal des Johannes ist wenig Sicheres bekannt, nach der Überlieferung soll er die Kirche von Ephesus geleitet haben bis er während der Christenverfolgung unter Domitian (95 n. Chr) auf die Insel Patmos verbannt wurde, wo er die Geheime Offenbarung schrieb und um 100 gestorben sein soll. Allerdings war in der Kirche schon immer umstritten, dass der Apostel und Evangelist Johannes mit dem Verfasser der Apokalypse identisch sei: Bereits Mitte des 3. Jahrhunderts bemerkte Bischof Dionysius von Alexandria, dass beide Texte stilistisch und inhaltlich nichts gemein hätten.
Der Johanneswein: Brauchtum am Gedenktag des Evangelisten
Die historisch-kritische Bibelexegese der Gegenwart wendet viele Argumente gegen die traditionelle Identifizierung ein und rechnet mit einer "johanneischen Schule", von der das Evangelium und die Briefe stammen. Zum Beispiel sei ein Lieblingsjünger nicht historisch belegt und der Apostel Johannes sei unwahrscheinlich, weil das Evangelium wegen der theologischen Reflexion und den vielen Monologen nicht wie ein Augenzeugenbericht klinge. Und schließlich gebe es mindestens einen zweiten Autoren, der das 21. Kapitel angefügt und damit bewirkt habe, dass der Lieblingsjünger als Verfasser des Evangeliums wirkt.
Es ist also noch vieles offen, was das vierte Evangelium angeht. Viele Gläubige im deutschsprachigen Raum interessieren sich am Gedenktag des Apostels Johannes (27. Dezember) für etwas ganz anderes: Den Johanneswein, der an dem Tag gesegnet und ausgeschenkt wird. Ist dieser Brauch auf die Bedeutung des Weins zurückzuführen, den das Getränk bei seinem ersten Wunder während der Hochzeit zu Kana hatte? Oder darauf, dass Jesus sagte "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben"? Nein: Nach einer mittelalterlichen Legende wollte der Evangelist nicht im Artemistempel von Ephesus opfern und musste als Strafe Gift trinken. Er soll ein Kreuz über den Kelch geschlagen haben und daraufhin sei das Gift als Schlange entwichen und er habe den Wein getrunken.
Der Artikel erschien erstmals am 27. Dezember 2017 und wurde am 27. Dezember 2018 aktualisiert.