Trotz Marienerscheinungen ist Gietrzwald kaum bekannt

Das Lourdes von Polen

Veröffentlicht am 28.04.2018 um 12:20 Uhr – Lesedauer: 
Maria

Gietrzwald ‐ Einst ein Politikum, heute ein fast vergessener Wallfahrtsort: Im ermländischen Gietrzwald gab es 1877 die einzigen von der polnischen Kirche anerkannten Marienerscheinungen. Eine Spurensuche.

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Altötting, Maria Einsiedeln oder das polnische Tschenstochau - die Liste von Wallfahrtsorten, in denen Maria eine besondere Rolle spielt, ist lang. Meist aber steht dort "nur" ein Gnadenbild in Zentrum des Kultes. Denn es gibt weltweit nur wenige Orte, die auch von der Kirche als Stätten einer Marienerscheinung anerkannt sind. Gietrzwald im Nordosten Polens ist so ein Ort.

Wenn Maria in Visionen erschienen ist, suchte sie sich oft ein ähnliches Szenario: Junge Mädchen, meist aus einfachen Verhältnissen, sind die Seherinnen; die Stelle häufig abgelegen im Wald und Flur und oft in einer katholischen Region - so war es in dem Alpenort La Salette 1846, in dem Pyrenäendorf Lourdes 1858 oder 1917 im portugiesischen Dorf Fatima. Heute sind alle drei Orte weltweit bekannte Wallfahrtsorte; allein Lourdes und Fatima zählen jährlich rund sechs Millionen Pilger.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Eine kleine Ausnahme in dieser "Regel" ist die Marienerscheinung von Gietrzwald im Jahr 1877: Zwar waren die jungen Seherinnen bei der Erscheinung ebenfalls aus einfachem Hause. Doch damals hieß der Ort Diedrichswalde und lag im protestantischen Ostpreußen. Zudem: Die Bekanntheit dieses Wallfahrtsortes ist trotz kirchlicher Anerkennung der Marienerscheinung mit bis zu 300.000 Besuchern pro Jahr eher regional. Zum Vergleich: Das südpolnische Tschenstochau wird jährlich von mehr als zehn Mal so vielen Wallfahrern aufgesucht.

"Das war einmal anders", sagt Krzysztof Bielawny. Der 51-jährige Priester betreut das Pilgerheim in Gietrzwald und gilt als ausgewiesener Kenner des Wallfahrtsortes und seiner Geschichte. "Schon im Jahr der Erscheinungen 1877 kamen bis zu eine halbe Million Pilger aus ganz Polen hierher." Damals habe Gietrzwald sogar dem heute weitaus bekannteren Tschenstochau den Rang abgelaufen, denn "Jasna Gora", wie das berühmte Paulinerkloster auf dem "Hellen Berg" genannt wird, gehörte in jener Zeit zu Russland.

Bild: ©Markus Nowak/KNA

Pilger knien vor einer Kreuzwegstation im Marienwallfahrtsort Gietrzwald.

Seit 1795 war der polnische Staat auf die Besatzungsmächte Österreich, Russland und Preußen, später das Deutsche Reich, aufgeteilt und verschwand von der Landkarte. Als den beiden Mädchen, der 13-jährigen Justyna Szafrynska und der 12-jährigen Barbara Samulowska, im Sommer 1877 in Gietrzwald mehrfach eine lichte Figur erscheint, wird das deshalb in mehrfacher Hinsicht zu einem Politikum.

"Die Erscheinungen fallen in die Zeit des Kulturkampfes, als die katholische Kirche gegen Bismarck einen schweren Stand hatte", sagt der Priester Bielawny. Als fast zur gleichen Zeit im Jahr 1876 im saarländischen Dorf Marpingen drei Kindern mehrfach die Jungfrau Maria erschien und in kurzer Zeit Zehntausende in den Härtelwald strömten, ließ Otto von Bismarck das preußische Heer aufmarschieren, das Dorf besetzen und den Zugang zum Wald versperren, um dem Treiben ein Ende zu setzten.

Große Sprengkraft

Der zuständige Landrat in Dietrichswalde ging weniger rabiat vor. "Aber auch in Gietrzwald wurden Verbote ausgesprochen", recherchierte Bielawny. So durfte die Dorfbevölkerung 1878 keine Pilger mehr aufnehmen oder ihnen zu Essen geben. Und die Wallfahrer durften nur in der damals noch kleinen Kirche beten. "Es passten 100 Leute rein, aber dann kamen Tausende", sagt Bielawny. Erst nach dem Kulturkampf wurde das Gietrzwalder Gotteshaus 1878 bis 1884 im neugotischen Stil zur größeren Wallfahrtskirche ausgebaut. 1970 erhob es Papst Paul VI. zur Basilica minor.

Die weitaus größere Sprengkraft lag aber darin, wie die Muttergottes die beiden Mädchen ansprach: auf Polnisch. Das Ermland war nicht nur eine katholische Enklave im protestantischen Ostpreußen. In manchen Familien und Ortschaften wurde Polnisch oder ein slawischer Dialekt gesprochen.

Bild: ©Markus Nowak/KNA

Die Erscheinungsstelle: Pilger sitzen auf Bänken und beten den Rosenkranz vor der Marienkapelle in Gietrzwald.

"Da kommt Maria und spricht in ihrer Sprache. Das war damals sehr wichtig für die Identität der Polen", sagt Bielawny. Eine Identität, um die es 100 Jahre nach der Tilgung des Landes von der Landkarte, immer schlechter stand. Daher bezeichnet Bielawny die Marienerscheinungen von Gietrzwald als "friedliche Revolution des Geistes". In allen drei Teilungsgebieten blühte nun ein polnischer Patriotismus auf, und grenzübergreifend kamen überwiegend polnischsprachige Pilger in das ermländische Dorf. Das änderte sich, als nach dem Ersten Weltkrieg Polen 1918 wieder einen Staat erhielt und das Ermland zur Weimarer Republik gehörte. Die Pilgerströme aus Polen flachten ab, beliebter wurden Wallfahrten an Orte innerhalb des damals neuerrichteten polnischen Staates, wozu bis heute Tschenstochau zählt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die alten Bewohner Ostpreußens vertrieben, und es kamen neue Siedler, etwa aus dem heutigen Litauen oder Krakau. "Für die war Gietrzwald etwas ganz Neues", sagt der Priester Bielawny. "Erst mit der Zeit haben sie erkannt, dass es ein wichtiger Ort ist." Offiziell anerkannt wurden die Marienerscheinungen von Gietrzwald erst 1977, nach genau 100 Jahren. Ein Zentrum für Pilgermassen ist Gietrzwald aber dennoch nicht geworden. Entsprechend dünn ist die Auswahl an Devotionalien, die es in einem Bücherladen zu erwerben gibt. Sie bewegt sich zwischen Schlüsselanhängern, Marienbildchen oder Kühlschrankmagneten.

Schon vor den Visionen ein Wallfahrtsort

1967 wurde das Gnadenbild der Wallfahrtskirche feierlich mit einer Goldkrone eingekleidet. Jene Darstellung zeigt nicht die Marienerscheinung von 1877, sondern stammt aus dem 16. Jahrhundert: eine "klassische" Darstellung Mariens mit dem Jesuskind auf dem Arm. Denn schon Jahrhunderte vor den Visionen der Seherinnen war das Dorf ein regionaler Wallfahrtsort.

Und auch heute ist das Gnadenbild im reich verzierten Hochalter das Ziel der Pilgerfahrten nach Gietrzwald. An der Erscheinungsstelle selbst steht "nur" ein Marienhäuschen mit ein paar Parkbänken davor. Häufig finden sich hier Pilger zum Rosenkranzgebet ein, zu dem Maria aufgerufen haben soll. Auf Wunsch der beiden Mädchen soll die Muttergottes eine Quelle in der Nähe der Basilika gesegnet haben. Von hier aus sind es nur einige Schritte weiter zu einem Pfad auf einen Hügel, der an Kreuzwegstationen vorbeiführt.

An der letzten Station bietet sich ein guter Blick über Gietrzwald und das überschaubare "sakrale Ensemble": die seit 1945 von den Augustiner-Chorherren vom Lateran betreute Wallfahrtskirche, das Pfarrhaus, ein Pilgerheim und ein Buchladen. Von hier oben fällt der größte Unterschied zu Lourdes, La Salette oder Fatima auf: Gietrzwald ist auch heute ein verschlafenes Dorf - fast wie zur Zeit der Erscheinungen.

Von Markus Nowak (KNA)