Erzbischof in Marokko kritisiert EU-Migrationspolitik
Spanien ist zu Europas neuem Hauptziel für Migranten geworden. Tausende auswanderungswilliger Afrikaner versuchen, über das Transitland Marokko europäisches Territorium zu erreichen. Der spanische Franziskaner Santiago Agrelo (76), Erzbischof von Tanger, spricht im Interview über die schwierige Lage der Betroffenen.
Frage: Herr Erzbischof, immer mehr afrikanische Migranten streben in das EU-Land Spanien. Was ist der Grund für diese Entwicklung?
Agrelo: Es gibt sicher mehrere Gründe. Ein Faktor ist, dass die Route über Libyen nach Italien wegen der restriktiven Politik der neuen italienischen Regierung sehr schwierig geworden ist. Vermutlich wollen die Migranten ausweichen und nähern sich deshalb den spanischen Südgrenzen. Die zu überwinden, ist nicht leicht. Die Nordafrika-Exklave Ceuta etwa ist von meterhohem Stacheldraht umgeben. Viele versuchen es trotzdem - und sie werden es immer weiter versuchen. Wie Ende Juli, als Hunderte Afrikaner über die Grenze nach Ceuta stürmten.
Frage: Welche Rolle spielt die neue sozialistische Regierung in Spanien. Zieht sie mit ihrer großzügigeren Migrationspolitik mehr Menschen an?
Agrelo: Es gibt zwar neue Worte, aber ich sehe keine neue Politik. Am Grenzregime hat sich bislang rein gar nichts geändert. Und ich glaube auch nicht, dass man etwas zum Positiven verändern wird. Im Gegenteil: Was ich vom jüngsten Treffen zwischen Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez und Kanzlerin Angela Merkel gehört habe, sind eher schlechte Nachrichten. Offenbar will man Marokko mehr Geld geben, damit es seine Grenzen besser sichern und kontrollieren kann.
Frage: Was stört Sie daran?
Agrelo: Dabei geht es überhaupt nicht um Gerechtigkeit oder um die Probleme der Migranten. Sie einfach nur an der Grenze zurückzuweisen - das ist doch keine Migrationspolitik. So bleiben ihnen nur illegale, äußerst gefährliche Einreisewege. Etliche finden dabei den Tod.
Frage: Welche Probleme bringen die Betroffenen dazu, ihre Heimat zu verlassen, um illegal nach Europa zu reisen?
Agrelo: Zur Ausgangslage in ihren afrikanischen Heimatländern kann ich nicht viel sagen. Es müssen gravierende Probleme sein, wenn Frauen, Männer und Kinder das Risiko einer solchen Reise auf sich nehmen. Hinzu kommen die Schwierigkeiten in Transitstaaten wie Marokko. Hier hat sich die Lage deutlich verschlechtert, besonders in den vergangenen Wochen. Früher konnten sich Migranten relativ ungestört bewegen - in Städten wie Tanger oder in den Wäldern rund um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Es gab ein gewisses Maß an Schutz. Inzwischen werden sie in die Enge getrieben und verfolgt; sie leiden unter Hunger und Kälte.
Frage: Heißt das, die marokkanischen Behörden machen Jagd auf die Einwanderer?
Agrelo: In den vergangenen Tagen gab es eine massive Festnahmewelle. Die Menschen werden von der Straße weggefangen. Auch in den Wäldern sind sie nicht mehr sicher. Sogar in Häusern und Wohnungen, wo man ihnen Unterschlupf gewährt, finden Razzien statt. Ich weiß nicht, auf welcher rechtlichen Grundlage das geschieht. Allein in meinem Erzbistum sind Tausende betroffen.
Frage: Was passiert mit den Festgenommenen?
Agrelo: Sie werden weg von der Küste in den Süden Marokkos gebracht. Das passiert mit viel Gewalt; es gibt Verletzte. Offizielle Informationen dazu gibt es nicht - eine unhaltbare Situation. Die Politik versagt. Es gibt kein Problembewusstsein und keine Idee, wie man eine gerechte Lösung für die Migrationsfrage finden könnte. Was wir brauchen, ist mehr Menschlichkeit. Die Einwanderer sind für niemanden eine Bedrohung.
Frage: Es gab Berichte über Migranten, die mit selbstgebauten Flammenwerfern und Ätzkalk auf Grenzbeamte in Ceuta losgegangen seien. Was sagen Sie dazu?
Agrelo: Noch nie hat ein Migrant Waffen für so etwas eingesetzt. Sie wissen genau, dass ihre einzige Waffe die Friedfertigkeit ist. Daran halten sie sich auch. Flammenwerfer und Ätzkalk gegen Grenzbeamte - wie soll das gehen? Das ist unmöglich. Leider hat diese Mitteilung der Guardia Civil für einen großen Skandal gesorgt und viel Schaden verursacht. Nun werden die Migranten in der Öffentlichkeit als aggressiv wahrgenommen, obwohl sie es gar nicht sind.
Frage: Diese Berichte sind also falsch?
Agrelo: Ich bin zwar kein Waffenexperte. Aber ich glaube nicht, dass sie der Wahrheit entsprechen.
Frage: Was meinen Sie: Sind den Europäern die Probleme der afrikanischen Migranten im Grunde egal?
Agrelo: Es gibt viele Menschen in Europa, die durchaus ein Gefühl dafür haben. Aber es deuten leider allerhand Indizien darauf hin, dass sich gerade ein latenter Rassismus ausbreitet. Das Ergebnis ist eine Ideologie der Zurückweisung. Was in Italien geschieht, ist ein gutes Beispiel dafür. Das sagt nichts Gutes aus über Europa. Diese Kriminalisierung der Zuwanderer muss ein Ende haben.
Frage: Welche Lösungen schlagen Sie vor, um die Migrationskrise zu entschärfen?
Agrelo: Das ist nicht meine Aufgabe als Bischof. Dafür sind Politik und Wirtschaft zuständig. Was ich suche, sind ethische Kriterien, wie man mit den vielen Menschen umgehen sollte, die nach Europa streben. Im Moment stelle ich fest, dass die Grundrechte dieser Personen systematisch verletzt werden. Jeder Mensch, der in Armut lebt, hat nach meiner Auffassung das Recht, sich eine bessere Zukunft zu suchen. Die EU-Staaten haben ihrerseits das Recht, ihre Grenzen zu kontrollieren. Damit habe ich kein Problem. Aber das bedeutet nicht, dass sie ihre Grenzen dichtmachen dürfen, um die Armen auszusperren. Gegen eine solche Politik sollten alle Christen ihre Stimme erheben.