Bei Kirchenschließungen kommt niemand ungeschoren davon
Wenn die Heimatkirche umgenutzt oder abgerissen wird, bricht für viele Gläubige eine Welt zusammen. Seit dem Jahr 2000 wurden in Deutschland über 500 Gotteshäuser aufgegeben, viele davon fielen der Abrissbirne zum Opfer – und die Zahl wird sich in den kommenden Jahren wohl noch drastisch erhöhen. Wie also soll die Kirche mit den Verlustgefühlen, der Ohnmacht und Wut ihrer Gläubigen umgehen? Der Vallendarer Pastoralpsychologe Wolfgang Reuter beschäftigt sich seit Jahren mit den Emotionen von Gläubigen bei Kirchenschließungen. Im katholisch.de-Interview spricht er über heftige Reaktionen und warnt vor Gefahren angesichts mangelnder Hilfen.
Frage: Herr Reuter, mit welchen Emotionen haben die Menschen zu kämpfen, wenn "ihre" Kirche aufgegeben wird?
Reuter: Es sind dieselben Emotionen, die auch bei großen und schweren Trauerprozessen auftreten – etwa wenn man einen Angehörigen verliert oder plötzlich mit einer schweren Erkrankung konfrontiert wird. Das Erschrecken ist groß, man will es nicht wahrhaben, das Akzeptieren fällt schwer und eine gewisse Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung macht sich breit. Es folgt häufig eine Phase weiterer heftiger Emotionen: Betroffene sagen, sie haben kein Verständnis, werden zornig und wütend. Das Resultat lautet dann häufig: "Lass uns das verhandeln, wir protestieren, wir gründen eine Initiative." Es werden also Aktivitäten geweckt, die dem Ganzen einen gewissen Widerstand entgegenbringen. Letztlich ist alles Ausdruck der Trauer über einen großen Verlust.
Frage: Die Heimatkirche hat für einen Menschen also einen immens hohen Stellenwert – fast wie eine vertraute Person…
Reuter: Das ist in jedem Fall so. Für die Menschen, die seit Jahrzehnten eine Kirche nutzen, wird das Gebäude zu einem Lebensmittelpunkt. Die Kirche ist für sie einerseits Ort der regelmäßigen Glaubenserfahrung und der Feier ihres Glaubens. Hinzu kommen die persönlichen Erinnerungen, die man damit verbindet: Taufe, Kommunion, Firmung, Hochzeit. Hier wurden also wichtige Stationen im Glaubensleben vollzogen. Letzteres gilt übrigens auch für Menschen, die nicht regelmäßig zum Gottesdienst in die Kirche kommen – also nicht zu den "Kernusern" zählen –, aber trotzdem dort geheiratet haben oder ihr Kind dort getauft wurde. Diese persönlichen Erfahrungen mit der Kirche machen es auch für sie schwer, wenn dieser Raum wegfällt. Auf den Punkt gebracht: Die Menschen hängen an ihrer Kirche und geben sich nicht mit einem anderen Gotteshaus zufrieden.
Frage: Abschließen, Umnutzen oder Abreißen: Was ist für die Menschen am schlimmsten und warum?
Reuter: Ich glaube, das lässt sich pauschal nicht sagen, weil jeder Mensch anders tickt. Die für viele schlimmste Variante ist wahrscheinlich schon, wenn die Kirche gar nicht mehr da ist, also abgerissen wird. Natürlich gibt es aber auch wenig beliebte Umnutzungen, und ein Vor-sich-hin-Vegetieren der abgeschlossenen Kirche ist ebenfalls kein schöner Anblick. Egal, was also mit dem Gebäude passiert: Für die Menschen, die eine Bindung daran hatten, ist die Aufgabe der Kirche immer ein schwerer Trauerschlag.
Frage: Wird diese große emotionale Bindung an die Heimatkirche von den Verantwortlichen für Kirchenschließungen zu wenig berücksichtigt?
Reuter: Das kommt immer auf die Konzepte der jeweiligen Bistümer an, inwieweit die Gläubigen also in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Im Bistum Essen zum Beispiel hatten und haben sie innerhalb des sogenannten "Pfarreientwicklungsprozesses" durchaus ein Mitspracherecht, von welchen Kirchen und anderen Gebäuden man sich trennen möchte. Aber auch das verhindert letztlich nicht, dass diejenigen, deren Kirche dann aufgegeben wird, emotional belastet werden. Da braucht es kompetente seelsorgliche Begleitung und viel Zeit, um Trauer und Wut letztlich in ein Einsehen und Einwilligen in notwendige Prozesse zu verwandeln. Ich denke, das haben die Kirchenleitungen heute noch zu wenig im Blick.
Frage: Eine große pastorale Herausforderung also. Wer ist hier überhaupt in der Pflicht – das Bistum oder eher die Hauptamtlichen in den Pfarreien und Gemeinden?
Reuter: Es sind beide Seiten in der Pflicht. Das Bistum muss zunächst eine qualifizierte Seelsorge angesichts der Umbruchsituation sicherstellen. Sprich: Die Seelsorger – ob Priester, Gemeinde- oder Pastoralreferenten – müssen durch entsprechende Schulungen mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet werden, um die Gläubigen emotional auffangen zu können. Die Umsetzung vor Ort muss dann natürlich durch die Hauptamtlichen in den Pfarreien geschehen – etwa durch regelmäßige Gesprächskreise, in denen man auf Augenhöhe miteinander spricht und die Emotionen artikuliert werden können. Und die Verantwortlichen vor Ort sind gut beraten, sich selber in dem Bereich weiterzubilden und begleiten zu lassen – durch Supervision, Coaching, externe Beratung. Hilfreich kann da vor allem sein, über den theologischen Tellerrand hinaus zu blicken und beispielsweise zu fragen: Was sagt die Psychologie? Es geht also darum, sich neue Kompetenzen anzueignen, die in der Berufsausbildung eines Theologen nicht unbedingt vorkommen.
Frage: Welche Gefahren bestehen, wenn man die Menschen nicht oder nicht ausreichend emotional auffängt?
Reuter: Dann kann es gut sein, dass sie der Kirche als Messbesucher oder auch als ehrenamtliche Mitarbeiter verlorengehen. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass sie bei einer Kirchenschließung keinerlei Mitspracherecht hatten und keine seelsorgliche Begleitung stattfindet, kann es zu einer extremen Verbitterung und Trotzhaltung kommen: "Wenn meine Kirche geschlossen wird, dann gehe ich eben gar nicht mehr in die Kirche."
Linktipp: Kirchenabrisse: "Wir stehen erst am Anfang"
Wie viele Kirchen wurden seit dem Jahr 2000 in Deutschland abgerissen? Katholisch.de hat die Zahl recherchiert und mit einem Experten gesprochen. Er ruft zum Umdenken auf – bevor es zu spät ist. (Artikel von Oktober 2017)Frage: Das klingt nach ernsten Problemen, die da noch auf die Kirche zukommen könnten…
Reuter: Deshalb ist es umso wichtiger, dass frühzeitig Strategien entwickelt werden, wie man dem entgegenwirken kann. Aus psychologischer Sicht sind Menschen durchaus dazu in der Lage, mit einem Ortsverlust oder einer Ortsveränderung umzugehen. Das ist uns anthropologisch mitgegeben: Das Leben beginnt immerhin mit einem klaren Ortsverlust – nämlich dem Verlassen des mütterlichen Raums –, und es ist immer wieder von Veränderungen geprägt. Auch die jüdisch-christliche Tradition zeigt, dass den Menschen stets Neuanfänge und Aufbrüche aus ihrem Glauben heraus zugemutet wurden. Das Christentum selbst entsteht ja durch einen "Ortswechsel" – nämlich durch das Auffinden des leeren Grabes: Jesus ist vom Tod ins Leben übergegangen.
Frage: Wenn man sich das vor Augen führt und die pastorale Begleitung stimmt, kann also ein Neuanfang immer gelingen?
Reuter: Es wäre vermessen zu denken, dass so ein Veränderungsprozess für alle Menschen immer gleich gut ausgeht. Das wird nicht für alle gut ausgehen. Teilweise ist das Entsetzen über die Schließung der Heimatkirche so groß, dass eine Wunde bei den Menschen entsteht, die auch nach Jahren nicht heilt. Der Transfer von der Heimatkirche in eine neue Kirche wird in den seltensten Fällen vollständig reibungslos funktionieren.
Frage: Wie sollte ein solcher Transfer denn am besten begangen werden?
Reuter: Ganz wichtig finde ich den Ritus der Profanierung, der zugleich ein Abschiedsgottesdienst von der alten und Übergangsgottesdienst in die neue Kirche ist. Der sollte von allen Gläubigen vorbereitet werden, sodass man sich in Würde verabschieden kann und auch rituell einen Neuanfang begeht. Man könnte das vielleicht mit dem Ritus einer Beerdigung vergleichen: Der kann helfen und Trost spenden, auch wenn sich die Angehörigen des Verstorbenen beileibe nicht wohl dabei fühlen. Von diesem Gedanken müssen wir uns auch verabschieden: dass wir es schaffen, alle Menschen in einer solchen Umbruchsituation glücklich machen zu können. Es ist ein schwerer Prozess, den die Kirche sich und damit dem gesamten Volk Gottes vor Ort zumutet. Letztlich kommt wohl niemand bei einer Kirchenschließung ganz ungeschoren davon. Aber wir können und müssen den Betroffenen helfen, dass sie den Übergang so gut es geht mitvollziehen und ihn irgendwann auch persönlich ratifizieren können. Und eins muss klar sein: Die Prozesse der Umwidmung von Kirchen sind immer eine Sache des ganzen Gottesvolkes, nicht nur der Kirchenleitung. Das erfordert ein Miteinander von Anfang an. Im besten Fall kann dadurch das oftmals beklagte "Gegeneinander" der Beteiligten und die Aufspaltung in "Gewinner" und "Verlierer" aufgehoben werden. Ich glaube, hier haben alle noch Lern- und Entwicklungsbedarf.