Wie Gläubigen die geistliche Selbstbestimmung geraubt wird
Doris Wagner gehörte acht Jahre lang der "Geistlichen Familie Das Werk" an. Während dieser Zeit erlitt sie verschiedene Formen geistlichen Missbrauchs. In ihrem neuen Buch "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche" schildert sie erstmals ausführlich die unterschiedlichen Facetten dieses Phänomens. Was sie unter spirituellem Missbrauch versteht, welche Umstände ihn begünstigen und was die Kirche dagegen tun muss – das erklärt Wagner im Interview mit katholisch.de.
Frage: Frau Wagner, was meinen Sie mit dem Begriff spiritueller beziehungsweise geistlicher Missbrauch?
Doris Wagner: Missbrauch ist immer eine Grenzverletzung und ich möchte spirituellen Missbrauch analog zu sexuellem Missbrauch verstehen. So wie dieser eine Verletzung sexueller Selbstbestimmung ist, ist geistlicher Missbrauch eine Verletzung der spirituellen Selbstbestimmung im Bereich des Glaubens und der Spiritualität.
Frage: Was ist spirituelle Selbstbestimmung?
Wagner: Jeder Mensch ist das Subjekt seines eigenen spirituellen Handelns. Das heißt: Welches Gottesbild ich habe, was ich glaube, wie ich bete, welche Lieder mir zusagen, um Gott zu loben, welche Entscheidungen ich aus meinem Glauben heraus treffe – das sind alles Handlungen und Entscheidungen, die ich frei setzen können muss. In dem Moment, wo jemand interveniert und mir sagt, wie Gott "wirklich" ist, was er genau von mir will und wie ich nicht beten darf, verletzt das die Selbstbestimmung. Wer Menschen den Zugang zu spirituellen Ressourcen und Ausdrucksformen von vornhinein beschränkt, der schränkt ihre Möglichkeit ein, spirituell autonom zu handeln.
Frage: Welche Formen von spirituellem Missbrauch gibt es?
Wagner: Ich mache die Unterscheidung zwischen Vernachlässigung, Manipulation und Gewalt. Sie bauen aufeinander auf, weil die Missbrauchstäter prozesshaft voranschreiten. Nichtbetroffene können oft nicht verstehen, wie man überhaupt spirituelle Gewalt zulassen und über sich ergehen lassen kann. Aber Menschen, die krasse Übergriffe erleben, bei denen Beziehungen zerstört werden, oder gar sexuellen Missbrauch in geistlichen Kontexten, haben vorher in aller Regel Formen von spiritueller Manipulation und spiritueller Vernachlässigung erlebt. So kann etwa eine Ordensfrau dahingehend manipuliert werden, dass sie grenzüberschreitende Anweisungen ihrer Oberin befolgt, weil sie kein vernünftiges Konzept von Gehorsam entwickeln konnte und so fälschlicherweise annimmt, dass das Zulassen der Grenzüberschreitung unter das Gehorsamsgelübde fällt. Schon die spirituelle Vernachlässigung allein kann genauso schwere Folgen haben wie spirituelle Gewalt, wenn ein Mensch kein tragendes Gottesbild hat um mit dem Leben fertig zu werden, kann das einen in die Verzweiflung treiben.
Frage: Wie groß ist das Problem innerhalb der katholischen Kirche?
Wagner: Das lässt sich schwer sagen, denn dazu bräuchte es Untersuchungen. Ich werde zu Vorträgen und Fortbildungen zu dem Thema eingeladen und sehe da, dass es einen Bedarf und ein Problem gibt. Immer wieder sagen mir Menschen bei den Vorträgen, dass sie betroffen sind und solchen Missbrauch auch erlebt haben. Auch Personen, die zunächst angeben, dass sie vom geistlichen Missbrauch noch nie gehört haben, geben sich dann als Betroffene aus, sobald sie verstehen, worum es geht.
Frage: Was in der Kirche begünstigt den geistlichen Missbrauch?
Wagner: Es gibt verschiedene Aspekte, den strukturellen und den theologischen. Die Kirche ist strukturell eine absolute Monarchie und dieses Muster von einer Person an der Spitze, die keine demokratische Legitimation benötigt, wiederholt sich von oben nach unten; es gibt Papst, Bischof, Dekan, Pfarrer; Ordensobere und Äbtissinen. Diese Machtstruktur begünstigt Missbrauch, weil Kontrolle von unten fehlt. Der zweite Aspekt ist offenbarungstheologischer Art: Wer weiß, wer Gott ist und was Gott will, und wer kann das verbindlich in der Kirche mitteilen? Wenn man das mit "das Bischofskollegium mit dem Papst an der Spitze" beantwortet, dann kommen wir zu der oben genannten Struktur, die problematisch ist. Denn nicht nur aus einer organisationstheoretischen, sondern auch aus einer theologischen Überlegung heraus muss man sagen: Niemand in der Kirche, auch nicht der Bischof, weiß besser als andere, was Gott will und niemand hat den Anspruch, einem Menschen zu sagen, was er zu tun und was er zu lassen hat wenn es um den persönlichen Glauben geht. Wenn die Kirche das ernst nehmen würde, dann hätte sie eine andere Struktur – eine, die Missbrauch besser verhindert.
„Beim geistlichen Missbrauch wird oft eine exklusive Spiritualität aufgenötigt und man braucht dann sehr viel Zeit, bis man sich wieder traut, anders zu beten, Gott anders zu sehen oder die Bibel anders zu lesen.“
Frage: Sehen Sie auch auf sakramentaler Ebene strukturelle Ursachen, etwa in so sensiblen Bereichen wie bei der Beichte oder der Krankensalbung?
Wagner: Jedes Sakrament und jeder rituelle und pastorale Akt sind anfällig für spirituellen Missbrauch. Ob das passiert, hängt aber immer von der Einstellung der seelsorgenden Person ab. Wenn der Beichthörende denkt, dass er ein Mittler ist, der eine Gnade vermitteln oder auch verweigern und Urteil sprechen kann, dann wird es problematisch. Wenn er sich aber als jemand versteht, der den anderen Trost zuspricht und versichert, dass er Vergebung finden kann und die eigene Rolle nicht hochhängt, kann Beichte auch was Gutes sein. Eine Rolle spielt auch, ob die Beichte freiwillig ist oder ein Zwang – wie es immer noch vor der Erstkommunion oder der Firmung geschieht.
Frage: Was können diejenigen, die Opfer von spirituellem Missbrauch werden, tun, um aus der Situation herauszukommen?
Wagner: Wenn man zum Opfer geworden ist, ist die Handlungsfreiheit oft schon so eingeschränkt, dass man von alleine nicht mehr rauskommt. Was dann hilft, sind tragende Beziehungen und alles, was die eigene Freiheit und Selbstbestimmung wiederherzustellen hilft sowie alternative spirituelle Ressourcen. Beim geistlichen Missbrauch wird oft eine exklusive Spiritualität aufgenötigt und man braucht dann sehr viel Zeit, bis man sich wieder traut, anders zu beten, Gott anders zu sehen oder die Bibel anders zu lesen. Dafür braucht man jemanden, der einen an die Hand nimmt und behutsam das Gefühl gibt "Du darfst das". Das ist ein sehr langer Weg, der vielen auch nicht gelingt.
Frage: Warum nicht?
Wagner: In der Kirche gibt es noch zu wenige Angebote und das Bewusstsein dafür, dass es geistlichen Missbrauch gibt, ist viel zu wenig da. Und wenn Betroffene sich melden, werden ihre Erfahrungen als missverständlich abgetan oder es wird überhaupt nicht verstanden, was ihnen passiert ist – geschweige denn realisiert, dass die Kirche etwas für sie tun müsste. Aber auf der anderen Seite gibt es das Bewusstsein schon: Wenn ich etwa höre, wie Papst Franziskus in seinen frühmorgendlichen Predigten Menschen kritisiert, die meinen, katholischer zu sein als andere, dann habe ich das Gefühl, er meint das Problem. Und drei Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz haben sich vergangenes Jahr das Thema geistlicher Missbrauch auf die Agenda gesetzt. Es gibt also das Bewusstsein dafür, aber wir stehen erst am Anfang eines langen Prozesses, der ähnlich komplex und langwierig wird, wie der beim sexuellen Missbrauch.
Frage: An welcher Stelle müssten der Vatikan, die Orden und die Bistümer handeln?
Wagner: Verantwortungsträger in der Kirche müssten unbedingt in den Fällen handeln, wenn beim geistlichen Missbrauch kirchenrechtliche Normen verletzt werden, etwa das Beichtgeheimnis oder die Trennung von Forum Internum und Forum Externum, wenn Informationen aus vertraulichen geistlichen Gesprächen weitergegeben werden oder als Grundlage für Entscheidungen im äußeren Bereich herangezogen werden. Der Bischof oder die römische Kurie müsste dann ermitteln und entsprechende Strafsanktionen verhängen. Ich habe viele solcher Normverletzungen erlebt, aber leider noch nie, dass Sanktionen verhängt worden wären. Warum erhält ein geistlich missbrauchender Mensch Leitungsaufgaben in der Kirche? Das wundert mich, denn ich denke, Strafsanktionen wären das erste und einfachste, was getan werden könnte und müsste. Weiter müsste die Kirche die Betroffenen anhören, sich die Fälle ansehen und sich dann überlegen, wie man geistlichen Missbrauch verhindern kann. Generell ist dieser schwerer zu beurteilen als sexueller Missbrauch – und es ist auch schwerer, daraus Konsequenzen zu ziehen. Aber es gibt auch hier Täterstrategien und Wiederholungstäter. Es geht darum, zu verhindern, dass Menschen in der Kirche Schaden leiden an anderen Menschen, die spirituell übergriffig werden.
Frage: Sie schreiben, dass es Widersprüche im Kirchenrecht und in offiziellen Lehräußerungen gibt. Können Sie da Beispiele nennen?
Wagner: Es gibt diese zwei Logiken, die wir überall in der Kirche ineinander verschränkt finden und die sich problematischerweise gegenseitig auschließen: Das Gewissen des Einzelnen stark machen und schützen auf der einen Seite und eine Unterordnung unter die Autorität verlangen auf der anderen Seite. Die beiden Logiken sind meines Erachtens nicht kompatibel und Teil des Problems. Schon in der Bibel beruft sich Paulus auf seine eigene Jesus-Erfahrung und macht sich nicht von Petrus abhängig. Aber derselbe Paulus, der für sich spirituelle Autonomie beansprucht, gesteht sie den eigenen Gemeinden nicht zu und möchte, dass sie nur ihm folgen. Dasselbe Kirchenrecht, das Mitspracherechte ermöglicht, verhängt auch gewisse einschränkende Klauseln, indem es etwa sagt, dass der Gläubige sich nur mit dem entsprechenden Respekt überhaupt an den Bischof wenden darf. Das ganze Kirchenrecht ist durchzogen von der Zweiteilung in Laien und Kleriker und pflegt damit eine Autoritätslogik, die Unterordnung verlangt. Die Kirche erscheint durch das Nebeneinander dieser beiden Logiken als Zwitterwesen, das einerseits schlägt und auf der anderen Seite wieder lächelt – als Gläubiger kann man sich da nur falsch verhalten: Wer sich unterordnet, wird als naiv angeschaut, weil die Kirche ja vermeintlich mündige Gläubige möchte. Und wenn jemand in Folge von Unterordnung und geistlichem Missbrauch Schaden leidet, trägt niemand in der Kirche dafür Verantwortung. Wer sich dagegen auf sein eigenes Gewissen beruft und entsprechend handelt, bekommt kirchliche Sanktionen zu spüren, etwa im kirchlichen Arbeitsrecht oder indem ihm der Zugang zu Sakramenten verweigert wird. Durch diese zwei Logiken können auf der anderen Seite Verantwortungsträger, die man auf ihre Autorität und Verantwortung anspricht, ausweichen und auf die andere Logik und das Gewissen der Einzelnen verweise, was praktisch heißt, dass sie nicht eingreifen, während sie de facto und de iure aber verantwortlich sind und diese Verantwortungsposition auch gerne für sich geltend machen, solange das für sie genehm ist.
Frage: Was müsste passieren?
Wagner: Dringend geboten wäre, dass Kirche sich ein für alle Mal und endgültig für das freiheitliche Prinzip entscheidet und sich von der Unterordnungslogik – da, wo sie noch existiert – distanziert. Sie darf nicht beschönigt werden als etwas, was manche Menschen brauchen oder als etwas, was in der Tradition so war. Die Kirche muss sagen, dass Menschen, die meinen, anderen verbindlich mitteilen zu müssen, was Gott will, gefährlich sind, Gläubigen Schaden zufügen und in der Kirche keine pastoralen Aufgaben übernehmen können.
„Die Kirche muss sagen, dass Menschen, die meinen, anderen verbindlich mitteilen zu müssen, was Gott will, gefährlich sind, Gläubigen Schaden zufügen und in der Kirche keine pastoralen Aufgaben übernehmen können.“
Frage: Setzt sich denn die Theologie aktuell mit dem spirituellen Missbrauch auseinander oder ist Ihr Buch in der Hinsicht ein Pionierwerk?
Wagner: Im Prinzip kann man die ganze Theologie der letzten Jahrzehnte, also nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, so lesen, dass es um spirituelle Selbstbestimmung der Gläubigen und die Auseinandersetzung mit geistlicher Autorität geht. Es gibt auch aktuelle theologische Debatten wie die zwischen Magnus Striet und Karl-Heinz Menke über Wahrheit und Freiheit. Aber wenn es ganz spezifisch um spirituellen Missbrauch im kirchlichen Kontext geht, um konkrete Fälle und die Reflexion darauf, dann ist mein Buch ein Erstwerk. Ich habe das Buch auch aus dem Gefühl heraus geschrieben, dass mir Literatur zu dem Thema fehlt.
Frage: Was vermissen Sie diesbezüglich?
Wagner: Ich bin selbst Opfer sexuellen und spirituellen Missbrauchs geworden und habe danach geistliche Begleitung gesucht. Viele konnten mir nicht helfen, waren überfordert oder hatten Angst. Ich habe mich dann selber auf die Suche gemacht mit folgenden Fragen: Was brauche ich, mit wem kann ich mich identifizieren, welche Geschichten tragen mich? Ich fand im Alten Testament die Erzählung der Susanna im Bade, die von zwei Ältesten sexuell bedrängt und verleumdet wurde und von Daniel, der in ihrem Namen aufsteht, prophetisch redet und sie verteidigt. Das ist eine so starke Geschichte. Es gibt im Schatz katholischer Spiritualität viele Geschichten und Rituale, die es zu erschließen gilt, weil es Menschen gibt, die sie bräuchten, aber mir kommt es vor, dass pastoral tätige Menschen dazu neigen, sich immer aus demselben kleinen Pool zu bedienen. Aber da ist soviel mehr möglich – auch in der Messe und selbst, selbst wenn man sich an die Rubriken hält. Ich habe erlebt – und es geht vielen Opfern spirituellen Missbrauchs so –, dass man auch mit Liturgie, Bibeltexten und bestimmten Feierformen missbraucht wird und diese hinterher nicht mehr ertragen kann. Inzwischen fühle ich mich am wohlsten und aufgehoben in einer Feier oder in einem gestalteten Gebet, das viel Freiheit und Stille lässt, wo ich nichts machen muss und einfach da sein kann. Mein Gefühl ist, dass solche Feiern sehr selten angeboten werden, weil unsere Feierformen meist sehr wortlastig sind. Vielleicht sind Gläubige zu wenig gewohnt, zu äußern, was sie wollen oder es wird ihnen zu schnell gesagt, dass etwas nicht gehe. Ich kann mir vorstellen, dass eine andere Kultur möglich wäre mit viel mehr Angeboten, Möglichkeiten und der Freiheit, dass die Gläubigen sich das, was sie brauchen, selber schaffen können.
Frage: In dem aktuellen Dokumentarfilm "Female Pleasure" gegen die Unterdrückung weiblicher Sexualität sind sie die christliche Stimme. Was sind Ihre Forderungen diesbezüglich an die katholische Kirche?
Wagner: Wie mit Frauen in der Kirche umgegangen wird ist auch ein Fall spirituellen Missbrauchs: etwa, wenn ihnen von Oben autoritär gesagt wird, was Frausein bedeutet. Als ich im Orden war, wurde mir gesagt, dass Frausein bedeutet, Kartoffeln zu schälen und die Unterwäsche der männlichen Ordensmitglieder zusammenzulegen, die im Nebenzimmer studieren durften. Wenn ich den Impuls hatte, etwas tun zu dürfen, etwa ein Buch zu lesen oder gar zu studieren, wurde mir von den Oberinnen gesagt, dass das jetzt nicht für mich dran wäre, dass ich das nicht bräuchte. Diese Erfahrungen machen viele Menschen in der Kirche und ganz besonders Frauen, etwa wenn ihnen gesagt wird, dass die Berufung, die sie verspüren, objektiv keine Berufung sein könne. Wenn wir die spirituelle Selbstbestimmung ernstnehmen, dann werden die Grenzen dessen, was in der katholischen Kirche möglich ist, auf einmal ganz weit. Davor haben viele Angst, aber ich glaube, dass das der einzige Weg ist, um die Institution zu retten und der einzige Weg, der die Kirche in die Zukunft führt. Spirituelle Selbstbestimmung würde heißen, dass Gläubige sich aus der katholischen Fülle an biblischen Geschichten, an Ritualen, Musik, Räumen, Gebetsweisen das nehmen, was zum Herzen spricht. Viele spirituelle Ressourcen im Katholizismus liegen derzeit brach, vielleicht weil Menschen Angst haben, selbstbestimmt zu handeln aus der Erfahrung heraus, dass ihnen dann Grenzen gesetzt oder sie mit Verboten belegt werden. Mir erscheint es theologisch wie moralisch geboten, diese Freiheit zu gewähren und zuzulassen, dass Menschen sich in der Kirche die spirituelle Heimat bauen dürfen, die sie brauchen.