Neue Formen der religiösen Identität

Der vielfältige Aufschwung der Spiritualität

Veröffentlicht am 06.06.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn/Münster ‐ "Spirituell, aber nicht religiös" – diese Selbsteinschätzung wird von einer wachsenden Zahl von Menschen geteilt. Darüber hinaus steht dieses Label auch für einen Wandel des religiösen Bewusstseins. Dessen Wurzeln führen in vergangene Jahrhunderte zurück.

  • Teilen:

Spirituell ja, religiös nein. Diese Antwort auf die Gretchenfrage kommt im Alltag immer wieder mal auf. Besonders Jugendliche legen sich in Sachen Religion und Konfession nur sehr ungern fest. Eine repräsentative Umfrage unter Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht zeigte vergangenes Jahr: 52 Prozent glauben an Gott, aber nur 22 Prozent bezeichnen sich als religiös. Fast doppelt so viele nennen sich selbst nur schlicht "gläubig".

Dass Menschen sich nur noch als "spirituell" und nicht mehr als "religiös" beschreiben, ist aber kein Massenphänomen, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack. Der Münsteraner Professor bezieht sich auf unterschiedliche Studien, laut denen zwischen zwölf und 16 Prozent der Menschen in Deutschland von sich sagen, nur spirituell, aber nicht religiös zu sein. Eine Minderheit, die aber an Zuspruch gewinnt, und dies vor allem in der Jugend. Der Grund dafür sind laut Pollack die vielen Nuancen, die beim Begriff "Religion"  mitschwingen: Die meisten denken dabei an das Christentum und die (noch) großen Kirchen. Kirchgang und Dogmen sind da eng mit dem Gottesglauben verbunden. "Die Unterscheidung zwischen 'spirituell' und 'religiös' ist der Versuch, Formen von Religiosität zu erfassen, die nicht kirchlich konnotiert sind." Denn von oben diktierte Glaubensnormen haben bei immer weniger Menschen einen guten Stand. "Man möchte sich da freier, individueller, selbstbestimmter verstehen. Das ist eine Tendenz, die insgesamt bemerkbar ist."

Bild: ©oneinchpunch/Fotolia.com

Vor allem Jugendliche wenden sich von institutionalisierter Religion ab.

Das Stichwort der Supermarkt- oder Patchworkreligion fällt in diesem Zusammenhang oft. Denn besonders fernöstliche Religionen wie der Buddhismus oder Meditations- und Spiritualitätsansätze aus fernen Ländern treffen im Westen auf großes Interesse. Der "Markt der Religionen" wird bunter. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass "der wichtigste Player auf dem religiösen Markt weiterhin die Kirchen" sind, so Pollack.

Selbstbewusste Gläubige

Doch die selbstbewusste Einstellung auch des konfessionell gebundenen Einzelnen gegenüber der Religion ist kein so neues Phänomen. Schon bei Umfragen in den 1970er Jahren gab es einen hohen Prozentsatz von Befragten, die sich zwar als katholisch identifizierten, jedoch die Einschränkung "auf meine Art" hinzufügten. Das hat mit einem Wechsel der Perspektive auf Religion zu tun: Heutige Gläubige sehen Religion vor allem als persönliche Angelegenheit, die eigene Person steht im Mittelpunkt des religiösen Interesses – das sorgt naturgemäß für eine Spannung zu Organisationen wie etwa den Kirchen, die sich im Besitz der wichtigen Botschaften wähnen und Folgsamkeit von ihren "Schäfchen" fordern.

Die Wurzel für diese persönliche Sicht auf Glauben findet der Religionssoziologe schon im Mittelalter und der Zeit der Reformation. Religiöse Sucher und Mystiker des späten Mittelalters widmeten sich als Einzelne der Gottsuche, jenseits konventioneller Bahnen. Nicht zuletzt Luther stellte die individuelle Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt seiner Theologie. Einen großen Schub bekam der Individualismus durch den Pietismus, der die persönliche Frömmigkeit von Dogmen und Metaphysik ablöste, und durch die Aufklärung, die die individuelle Selbstbestimmung in staatlicher wie religiöser Sicht ins Zentrum rückte.

Seit der Industrialisierung und dem damit verbundenen Anstieg von wirtschaftlichem Wohlstand, Bildung und Rechtssicherheit gilt die vorranginge Sorge vieler Menschen nicht mehr dem unmittelbaren eigenen Überleben. Vielmehr haben sich persönliche Ansprüche herausgebildet, die auch gegenüber Staat und Öffentlichkeit verstärkt behauptet werden. Im Zuge dieser stärkeren Fokussierung auf die eigene Person entstand der Wunsch nach Authentizität: Man will sich nicht verbiegen, sondern aufrichtig sein – auch, was die Religion betrifft.

Ein bunter "Markt der Religionen"

Infolgedessen schauen sich manche auf dem "Markt der Religionen" mit Interesse um. Die Grenzen zwischen Religion, spirituellen Techniken und Wellness-Praktiken verwischen. Oder man pickt sich die Rosinen heraus: Yoga ist etwa eigentlich ein ganzheitlich religiös-spiritueller Ansatz, aber in vielen Fällen konzentriert man sich auf seine sportlichen und entspannenden Elemente. Andererseits spielt auch die kapitalistische Sicht eine Rolle: Viele Bereiche von Esoterik oder Spiritualität versprechen, verborgene Quellen oder unentdeckte Potenziale des eigenen Selbst aufzuspüren – beruflich wie privat. "Das ist der Religion aber nicht fremd", sagt Pollack. Schließlich war sie schon immer ein Mittel zur Stärkung des Ich und der im Ich liegenden Ressourcen.

Hände eines Mannes mit Hemd und Krawatte tippen nachts auf Computertastatur.
Bild: ©Photographee.eu/Fotolia.com

Beruflicher Erfolg ist vielen wichtiger als Religion.

Diese verschiedenen Tendenzen sind bei religiös Interessierten sehr unterschiedlich ausgeprägt, tief überzeugte Esoteriker sind eher die Ausnahme. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist aber weithin spürbar – und die Kirchen reagieren darauf. Sie fragen vermehrt nach spirituellen Quellen im Christentum, bieten spirituelle Wanderungen an oder versuchen, synkretistische Formen christlich aufzugreifen. Das Ziel: Menschen zu gewinnen, die bei traditionellen Glaubensformen wegbleiben.

Ein zweischneidiges Schwert

Diese Strategie ist, jedenfalls zum Teil, erfolgreich: Denn besonders in der katholischen Kirche spielt Spiritualität eine wichtige Rolle. So fand eine Studie des Marktforschungsinstituts "rheingold" vergangenes Jahr im Auftrag des Erzbistums Köln heraus, dass spirituelle Komponenten "ein großes Pfund" bei der Bindungskraft der Kirche sein können. Im Hinblick auf die eher allgemein spirituell Interessierten hat das aber einen Haken: Auf sie kann man sich oft nicht verlassen.

Denn mit der Individualisierung und dem Verwischen religiöser Grenzen geht laut Pollack auch die Säkularisierung einher. Zu religiösen Institutionen besteht nur noch ein sehr laxes Verhältnis, man bindet sich ungern. Das trifft nicht nur auf die Kirchen zu, sondern auch auf Parteien und den Staat, aber eben auch auf esoterische Gruppen: Deren "harter Kern" ist oft sehr klein, die Mehrheit kommt nur hin und wieder mal vorbei.

Genauso ist es bei den Kirchen: Die meisten Mitglieder sind eher distanziert, schätzen zwar religiöse Werte etwa für die Kindererziehung, beschäftigen sich sonst aber wenig mit Gott und dem Leben nach dem Tod. Säkulare Felder sind wichtiger: Eine funktionierende Familie, eine erfüllende Arbeit und Selbstverwirklichung in der Freizeit. Religion ist unter den Lebensbereichen nur ein Teil unter anderen  – und steht keineswegs an erster Stelle. Das säkulare Leben bietet so viele Entfaltungsmöglichkeiten, dass die Aufmerksamkeit von religiösen Fragen abgezogen wird. Den Jüngeren ist sogar Politik wichtiger als Religion. Menschen mit der Angabe "Spirituell, aber nicht religiös" können dem allgemeinen Trend zur Säkularisierung kaum entgegenwirken. Sie berichten sogar deutlich seltener als andere, "sich mit dem Göttlichen eins zu fühlen". In die Kirche gehen sie ohnehin selten. Spiritualität bedeutet also vor allem, dass die Religiosität verblasst und vage wird. Auf die individuelle Lebensführung, auf Kindererziehung und politisches Wahlverhalten hat diese Form der Religiosität einen geringen Einfluss, so Pollack.

Für die Kirchen ist diese Gemengelage eine zweifache Herausforderung: Sie versuchen, mit neuen alternativen Angeboten das Interesse auch bisher kirchendistanzierter Sucher zu wecken. Sie müssen es dann aber schaffen, diese Interessierten mit christlichen Inhalten zu überzeugen und dauerhaft zu binden. Sonst bleibt der Ausflug in die Kirche ein kurzes Intermezzo.

Von Christoph Paul Hartmann