Erster Advent: Die Nacht ist vorgedrungen
Was die adventliche Zeit bedeutet, hat im 20. Jahrhundert kaum ein Lieddichter tiefer und eindringlicher bedacht als Jochen Klepper (1903–1943). Weil es ihm um das Licht geht, das Gottes Menschwerdung in die Welt bringt, muss er auch von der "Nacht" und vom "Dunkel" singen. Doch schon die zweite Zeile nimmt das Ziel in den Blick: "Der Tag ist nicht mehr fern", und begründet damit das Singen: "drum sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!" Ja, dieses Lied ist der Versuch, gegen die Finsternis anzusingen! Der Autor Klepper kannte die dunklen Mächte, vor allem die in Gestalt des Nationalsozialismus, der ihn in "Angst und Pein" versetzt hat.
Jochen Kleppers biblisch inspiriertes Lied
Beim Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" erfahren wir aus dem Tagebuch des Autors – veröffentlicht 1956 mit dem Titel "Unter dem Schatten deiner Flügel" – sogar das genaue Datum und die Tageszeit der Entstehung. Am 18. Dezember 1937 notiert er, dass er "am Nachmittag" dieses Lied verfasst hat. Seine kalligraphisch schöne Reinschrift dieses neuen Liedes liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Über dem ersten Druck des Liedes in Kleppers berühmten Büchlein "Kyrie" steht die Bibelstelle, die ihn besonders inspiriert hat. Es sind Worte des Apostels Paulus aus dem Brief an die Römer, Kapitel 13, Verse 11 und 12, nach der Lutherbibel: "Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden; die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen): so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes."
Da ist keine Rede von adventlicher Heimeligkeit. Die militärischen Bilder können durchaus irritieren. Für Klepper bedeuten sie Ernsthaftigkeit und vorbehaltlose Hingabe. Immer wieder stellt er sich den adventlichen Spannungen, ohne sie vorschnell aufzulösen. Vielmehr arbeitet er die Gegensätze scharf heraus: dunkel und hell, leicht und schwer, kalt und warm, ernst und fröhlich – letztlich Krippe und Kreuz, weil die Menschwerdung Gottes nicht in Betlehem endet, sondern Jesus bis nach Golgota führt.
Gegensätze inspirieren Jochen Klepper wohl auch deshalb, weil er solche Spannungen mit seiner Familie geradezu existenziell durchlebt. "Angst und Pein" will er nicht vorschnell mit frohem Lob übertönen. Und doch ist alles Dunkle überstrahlt vom "hellen Morgenstern", der dem nächtlichen Weinen ein Ende setzen wird. Persönlich durfte Klepper diese Wendung ins Helle nicht erleben. Zur Entstehungszeit des Liedes "Die Nacht ist vorgedrungen" ist er äußerlich bedroht und innerlich aufgewühlt. Das "Schreibverbot" mit dem er nach seiner Heirat mit der verwitweten Jüdin Johanna Stein-Gerstel (1890–1942) belegt ist, nimmt ihm jede berufliche Entfaltung. Seiner Frau und deren Töchter droht die Verschleppung in ein Konzentrationslager. Fünf Jahre später wird die Situation der Familie so unerträglich, dass sie ihrem Leben in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 selbst ein Ende setzen. Ein Ende in gläubiger Hoffnung auf Vollendung.
"Gott will im Dunkel wohnen" – adventliche Dramatik
Eine adventliche Dramatik prägt Kleppers Lied. Auf das Stimmungsbild mit Lied und Stern (Strophe 1) folgt ein poetisches Jesusbild: Gott, Kind und Knecht ist er. An ihn zu glauben verheißt Rettung (Strophe 2). Die dritte Strophe setzt mit einer drängenden "Zeitansage" ein: Die Nacht ist nicht nur "vorgedrungen", sondern "schon im Schwinden". Wer sich jetzt nicht aufmacht zum Stall, könnte das Wunder verpassen! Dann verankert Klepper diese Nacht aller Nächte in den Tiefen der Geschichte. Vom ersten Anfang an, als im Paradies "eure Schuld geschah", gilt die göttliche Verheißung des Bundes, deren einmaliger Zielpunkt die Menschwerdung Gottes in seinem Sohn ist. Bei den Worten "… aller Zeiten Lauf" läuft sogar die Zeile über, weil keine poetische Regel diesem Lauf Einhalt gebieten darf.
Die letzten beiden Strophen intensivieren die Spannungen, von denen eingangs schon die Rede war. Licht und Dunkel sind deshalb so wichtig, weil Gott selbst "im Dunkel wohnen" will. Er bleibt unverfügbar – und doch erreichbar dem Gebet. Wenige Tage vor diesem Lied, am 7. Dezember 1937, hat Klepper seinem Tagebuch folgende Notiz anvertraut: "Ich glaube nicht an Aktionen. Gott will im Dunkel wohnen, und das Dunkel kann nur durchstoßen werden durchs Gebet."
Die kongeniale Melodie von Johannes Petzold
Jochen Kleppers persönliches Schicksal soll nicht vergessen werden. Es schwingt wie ein "Oberton" mit, wenn wir seine adventlichen Strophen singen – als Lied der verhaltenen Freude, das schwierige Worte wie "Gericht" und "Schuld" nicht ausklammert. Doch wenn Advent eine Vorbereitungs- und Bußzeit ist, dann darf auch die Erinnerung an dunkle Themen hier ihren Platz finden.
Die Musik macht Kleppers Verse zum gesungenen Gebet. Und zu seinen adventlich-herben Gedanken passt überaus gut die Melodie, die der thüringische Kirchenmusiker Johannes Petzold 1938 komponiert hat und die rasch bekannt wurde. Mit ihrem Wechsel von Halbe- und Viertelnoten sowie der archaisch-modalen Harmonik ist sie das geeignete "musikalische Gewand" für Kleppers Worte. Am besten entfaltet sich die weit ausschwingende Melodie wohl dann, wenn sie ohne instrumentale Begleitung in einer nur von Kerzen erleuchteten Kirche gesungen wird, etwa bei einer Rorate-Messe.
Der Liedtext: Die Nacht ist vorgedrungen
Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.
Dem alle Engel dienen,
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.
Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.
Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr;
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.
Text: Jochen Klepper (1938)
Melodie: Johannes Petzold (1939)