Vatikan öffnet Archive zum Zweiten Weltkrieg

Pius XII.: Neue Enthüllungen zur Geheimdiplomatie und zum "Schweigen"

Veröffentlicht am 09.12.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Pius XII.: Neue Enthüllungen zur Geheimdiplomatie und zum "Schweigen"
Bild: © KNA

Rom ‐ Auf diesen Termin warten manche Forscher schon lange: Kommendes Jahr öffnet der Vatikan die Archive für die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Warten neue Erkenntnisse? Ein Insider meint: ja und nein.

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Seit Jahren fordern Forscher und Politiker die Öffnung der Vatikanarchive für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und zu Pius XII. - lang vergebens. Am 2. März 2020 will Papst Franziskus diese Dokumente endlich freigeben. Dazu äußert sich der Jesuit Peter Gumpel, der als Relator für das Seligsprechungsverfahren des Pacelli-Papstes bereits Zugang zu allen Verschlussakten hatte. Er verweist auf wenig bekannte Details wie die geplante Mittlermission zu einem Separatfrieden mit England oder vom plötzlichen Abbruch der Razzia auf das römische Ghetto. Und er verrät, warum Pius XII. noch nicht seliggesprochen ist. 

Frage: Papst Franziskus hat zum 2. März 2020 die Öffnung der Vatikanarchive für das Pontifikat von Pius XII. (1939-58) verfügt. War der Schritt nicht überfällig?

Gumpel: Der Vatikan hat seit Leo XIII. (1878-1903) begonnen, seine Archive – ähnlich wie in anderen Staaten - nach einer gewissen Zeit zu öffnen. Nach bisherigem Gewohnheitsrecht beträgt die Frist hier 70 Jahren nach dem Tod eines Papstes. Die Akten von Pius XII. hätten folglich bis zum 8.10.2028 unter Verschluss bleiben sollen. Aber schon Benedikt XVI. hatte, aufgrund vieler internationaler Anfragen, eine frühere Öffnung eingeleitet.

Frage: Warum hat es doch noch so lange gedauert?

Gumpel: Ich hätte mir auch einen früheren Zugang gewünscht. Aber es gab vor allem praktische Probleme. Immerhin handelt es sich um 16 Millionen Dokumente, manche mehrseitig, die zuvor völlig ungeordnet waren. Ein Durcheinander, wie ich mich persönlich überzeugen konnte. Die Dokumente mussten fotografiert werden, und es musste ein Index erstellt werden, um das Material – nach Ländern, Diözesen und Personen – ablegen, zusammenfassen und zugänglich machen zu können. Allein der Personenindex umfasst zigtausende Namen. Anfangs verlief die Aufarbeitung sehr langsam, nur zwei Archivare waren beschäftigt, zuletzt ging es zügiger. So ist man achteinhalb Jahre früher fertig.

Frage: Was bedeutet die mit Spannung erwartete Archiv-Öffnung? Was erwarten Sie?

Gumpel: Die Wissenschaft und Forschung begrüßt diese Maßnahme. Auch ich persönlich erwarte mir viele neue Erkenntnisse; denn der Vatikan war und ist über viele Bereiche gut informiert. Es wird jetzt nicht nur das Päpstliche Geheimarchiv geöffnet. Fast noch wichtiger für die moderne Zeitgeschichte ist das Archiv des Staatssekretariats mit dem Material der vatikanischen Diplomatie. Zudem geben auch die einzelnen Kongregationen jetzt ihre Archive für jene Epoche frei. Allerdings hat der Vatikan selbst während der deutschen Besatzung 1943/44 Dokumente aus den Geheimarchiven entfernt – aus Angst. Man muss also mit Lücken rechnen.

Frage: Welche Neuigkeiten erwarten Sie von der Archiv-Öffnung?

Gumpel: Es wird eine Unzahl von Neuigkeiten geben. Man kann hunderte Themen und Aspekte in Politik, Kunst, Kultur und Wissenschaft erforschen, wo noch weiteres zum Vorschein kommen dürfte. Ich erwarte spannende Einzelheiten etwa zur Politik Frankreichs, oder Englands, oder den USA.

Frage: Zum Beispiel . . .

Gumpel: Wir bekamen vor einiger Zeit aus England eine Reihe von Dokumenten (20) – in Ablichtung – über den Plan deutscher Generäle von 1939/40, für den Fall eines möglichen Putschs gegen Hitler einen Verständigungsfrieden mit England durch Vermittlung des Papstes zu erreichen. Hohe Militärs entsandten den deutschen Advokaten Josef Müller (den späteren CSU-Vorsitzenden, genannt "Ochsensepp") nach Rom. Er traf hier den Vatikan-Prälaten und vormaligen Zentrums-Abgeordneten Ludwig Kaas, der direkten Zugang zum Papst hatte. Kaas unterbreitete dem Papst die Bitte. Pius XII., normalerweise kein Mann spontaner Entscheidungen, war über Nacht einverstanden. Er empfing umgehend den britischen Gesandten Francis D’Arcy Osborne (dessen Buttler später als Doppelagent enttarnt wurde), und erklärte sich zu einer Mittlerrolle bereit. Der Vorgang ging, wie die Dokumente zeigen, an Premier Chamberlain und bis zum englischen König. Die Briten sagten zu. Auch Frankreich wurde eingebunden. Allerdings war die Sache mit dem Ende des "Sitzkrieges", dem Beginn des Frankreichfeldzugs am 10.5.1940 und der Schlacht um Dünkirchen vom Tisch. Das kann man nun weiter untersuchen.

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Der Jesuitenpater Prof. Dr. Peter Gumpel war Relator für das Seligsprechungsverfahren von Papst Pius XII.

Frage: Erwarten Sie neues Material zu Pius XII.? Wird sich sein Bild verändern?

Gumpel: Die freigegebenen Dokumente werden sicher viel Neues und Interessantes zu Tage fördern, ich sehe aber nicht, dass sie noch mehr Neues über Pius XII. bringen. Hier sind die Antworten bereits gegeben. Sein Leben und Wirken ist im Rahmen des Seligsprechungsprozesses gründlichst untersucht worden.

Für diesen Prozess hatten meine Kollegen und ich als Relatoren von den Päpsten Zugang zu allen Verschlussdokumenten des Vatikan erhalten. Die (unveröffentlichte) Positio zum Seligsprechungsverfahren umfasst 3.500 Seiten in sechs Bänden, sie genügt allen wissenschaftlichen Ansprüchen. Alles über sein Leben, die angespannte Lage in Italien, alle Aktivitäten bis zu seinem Tod sind sorgfältig dokumentiert. Dazu gehören 98 Zeugenaussagen von Kardinälen, Priestern, Laien, von Bediensteten, auch von Journalisten, die ihn in Berlin und in Italien kannten, natürlich auch von seiner Haushälterin Schwester Pasqualina Lehnert. Sie wurden unter Eid befragt. Auch wurde die gesamte Literatur über Pacelli ausgewertet.

Zudem sind die Vorwürfe, die in den vergangenen Jahren von Seiten der Kritiker gegen Pacelli erhoben wurden, bereits untersucht und beantwortet worden. Ich sehe nicht, dass da noch neues Material, dass neue Dokumente und Argumente auftauchen. Erst vor einigen Tagen hatten wir hier unsere Experten-Versammlung. Auf die Frage, gibt es noch Neues zu bzw. gegen Pius XII. hieß es unisono: "Wir glauben nicht". Freilich habe ich nicht die Illusion, dass nach der Öffnung der Archive plötzlich alle von Pius XII. begeistert sind. - Aber natürlich müssen wir abwarten.

Frage: Die Öffnung der Archive wurde gelegentlich als Voraussetzung für eine Seligsprechung genannt. Rückt die nun näher?

Gumpel: Benedikt XVI. hat seinem Vorvorgänger 2009 den heroischen Tugendgrad zuerkannt. Eine Voraussetzung für die Seligsprechung ist dann noch die Bestätigung eines Wunders. Und das liegt bislang nicht vor. Es wurden einige Vorgänge untersucht, aber ohne positiven Beweis und Abschluss. Allerdings bleibt grundsätzlich die Frage, ob ein solcher Wundernachweis noch zeitgemäß ist, bei dem geprüft wird: Ist diese Heilung medizinisch erklärbar? Gelegentlich haben die Päpste davon abgesehen. So wurde etwa Johannes XXIII. ohne einen solchen Beweis heiliggesprochen.

Frage: Erwarten Sie eine endgültige Klarstellung zu den Behauptungen vom angeblichen "Schweigen" und einer Untätigkeit Pacellis bei der Judenverfolgung?

Gumpel: Es hat kein "Schweigen" und keine "Untätigkeit" gegeben. Pacelli hat sich auf vielen Wegen und mit vielen Mitteln für verfolgte Menschen und gerade für Juden eingesetzt. Aber er hatte auch verstanden, dass öffentliche Proteste unter den damaligen Umständen nichts nützten, sondern sogar kontraproduktiv waren und schadeten.

Die 70 Proteste des Vatikan ab 1933 bei der deutschen Reichsregierung zu allen möglichen Themen - vom Religionsunterricht bis zum Versammlungsrecht oder zur Pressefreiheit - wurden vom Außenministerium ausweichend oder gar nicht beantwortet. Die Enzyklika "Mit brennender Sorge" zum Palmsonntag 1937 - deren Text Pacelli persönlich zugespitzt hatte - wurde von vielen Gläubigen in Deutschland mit Begeisterung begrüßt. Aber vor den Kirchen standen bereits SD und Gestapo und kontrollierten die Kirchengänger. Und die Behörden, vor allem Goebbels Propagandamaschine antworteten mit Diffamierungen und einer Prozessflut gegen Priester und Ordensleute wegen aller möglicher "Verbrechen".

Spätestens die Massendeportation von getauften Juden in Holland (darunter Edith Stein) als Reaktion auf einen Protest der dortigen Bischöfe zugunsten der Juden hatte ihm gezeigt, dass ein öffentlicher Protest sinnlos war. Dass er im Gegenteil die Lage verschlimmerte und mögliche Hilfen erschwerte und gefährdete. Der Papst wurde – dafür gibt es Belege - aus allen möglichen Kreisen vor offenen Protesten gewarnt, auch von den polnischen Bischöfen wie vom deutschen Widerstand.

Frage: Aber ein öffentlicher Protest?

Gumpel: Pius XII. hat sich auch öffentlich geäußert. In seiner Weihnachtsansprache 1942 bekundete er seine Sorge für die "Hunderttausenden, die ohne eigenes Verschulden, bisweilen nur aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse dem Tod oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind". Ein direkter Hinweis auf das polnische Volk und auf die jüdische Rasse. Die Worte wurden verstanden. Die USA: Das war eine gute und wichtige Maßnahme, aber zu kurz. Die Nazis waren wütend: "Hier macht sich der Papst zu Sprecher der jüdischen Kriegsverbrecher." Die Weltpresse: Hier hat der Papst eindeutig gegen die Nazis Stellung bezogen.

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Pius XII. war von 1939 bis 1958 Papst.

Frage: Ein Vorwurf lautet, Pius XII. habe bei der Razzia der SS gegen das jüdische Ghetto in Rom nichts unternommen.

Gumpel: Das stimmt nicht, im Gegenteil. Der Papst war am frühen Morgen des 16.10.1943 von einer früheren Schülerin, Prinzessin Enza Pignatelli d‘Aragon Cortes, über die Vorgänge im Ghetto direkt informiert worden. Die Prinzessin war von einer Freundin angerufen worden, die von ihrem Fenster aus den Beginn der Aktion beobachtet hatte, und begab sich sofort zum Vatikan. Pikanterweise ließ sie sich von einem Sekretär der deutschen Botschaft, Wollenweber, chauffieren, der mit einer Nazi-Fahne am Auto passieren durfte. Sie traf den Papst, der gerade in der Privatkapelle die Frühmesse beendet hatte.

Pius XII. gab daraufhin seinem Kardinalstaatssekretär Maglione die Order, sofort den deutschen Botschafter von Weizsäcker einzubestellen. Ihm wurde gesagt, der Papst möchte nicht in die Situation kommen, offiziell zu protestieren. Kardinal Maglione wollte es aber dem Botschafter überlassen, wie er mit dieser Ansage verfahren wollte. - Allerdings verhielt sich von Weizsäcker hier sehr merkwürdig: Er hat über die vatikanische "Androhung" zunächst nichts mitgeteilt. Erst einen Tag später erstattete er Meldung. Aber da war die Razzia schon abgebrochen.

Frage: Die Operation ging überraschend schnell zu Ende. Warum? 

Gumpel: In der Tat wurde die Razzia bereits zwischen 12 und 14 Uhr plötzlich verboten. SS-Hauptsturmführer Dannecker (ein enger Mitarbeiter Eichmanns), der eigens mit 365 Männern nach Rom beordert worden war, erhielt über Kappler die Nachricht: Himmler befiehlt den sofortigen Stopp. Es war ein Abbruch wie aus heiterem Himmel; denn die ganze Aktion war sorgfältig vorbereitet worden, und der Auftrag lautete, 8.000 Juden zu überführen, festgenommen wurde nicht mal ein Sechstel. Zuvor hatte sich bereits Generalfeldmarschall Kesselring geweigert, auch nur einen Mann der Wehrmacht für die Aktion abzustellen. Der römische Stadtkommandant, General Stahel, lehnte ebenfalls ab und sagte im vertrauten Kreis, mit einer solchen "Schweinerei" wolle er nichts zu tun haben. Folglich war der Absperrgürtel durchlässig und ermöglichte etlichen Bewohnern die Flucht.

Frage: Aber wie kam es zu Himmlers Sinneswandel?

Gumpel: Wie ich später bei den Arbeiten für die Positio aus hohen deutschen Militärkreisen erfahren habe, kam der entscheidende Anstoß von General Stahel. Er wurde Ende Oktober 1943 überraschend nach Russland strafversetzt. Beim Abschiedsbesuch in Kesselrings Kommandozentrale nördlich von Rom sagte er auf eine Frage hin: Ich habe etwas unternommen, was ich nicht bedauere, was ich heute nochmal machen würde, aber was mich in Ungnade gebracht hat. Ich habe Himmler angerufen und ihm gesagt: Ich bin verantwortlich für den Nachschub für die deutschen Truppen, die noch in Süditalien in schweren Kämpfen stehen. Meine Aufgabe wird von Tag zu Tag schwieriger. Wenn Sie mit den Maßnahmen gegen die Juden weitermachen, befürchte ich, dass dies zu einem Aufstand der Italiener führt. Ich habe nicht die Macht, den niederzuschlagen. Es ist Ihre Verantwortung: Wenn Sie weitermachen, übernehmen Sie die Verantwortung.

Himmler ist darauf reingefallen und hat den sofortigen Stopp verfügt. Er wollte nicht verantwortlich sein, wenn der Nachschub für die kämpfenden Truppen in Süditalien weiter ins Stocken gerät. Und der Nachschub für Panzerdivisionen, an Benzin und Munition, ist enorm.

Frage: Pius XII. hat – so eine jüngste Behauptung – auch nach 1945 zur Judenverfolgung geschwiegen. Stimmt das?

Gumpel: Das ist nicht wahr. Er hat etwa 1946 eine Gruppe von ehemaligen Auschwitzhäftlingen in Audienz empfangen, die in ihrer KZ-Kleidung in den Vatikan gekommen waren. Er hat sie begrüßt und ausführlich mit ihnen gesprochen.

Frage: Wird ab dem 2. März ein Run von Historikern auf den Vatikan einsetzen?

Gumpel: Man muss abwarten. Zweifellos besteht großes Interesse. Allerdings erinnere ich mich, als 2009 die Archive für das Pontifikat von Pius XI. (1922-39) aufgemacht wurden (70 Jahre nach dessen Tod), hielt sich der Ansturm der Forscher in Grenzen. Nach wenigen Tagen war der erste Andrang vorbei. Zudem kamen die meisten Wissenschaftler – Zugang erhalten nur promovierte Personen - nur für wenige Tage. Nach der Bibliotheksordnung kann jeder Besucher immer nur drei Dokumente auf einmal ausleihen – das kann einen Forschungsaufenthalt leicht verlängern. Und der bedeutet immer auch einen logistischer Aufwand und eine Kostenfrage.

Von Johannes Schidelko