Das Kinderbischofsfest: Mehr als Kirchen-Karneval
Im Diözesanmuseum Paderborn findet sich das Bild einer Prozession aus dem Jahr 1755. Über den Marktplatz vor dem Dom zieht da eine lange Reihe von Personen, vorneweg die Stabträger der Kathedrale, der Rektor der Domschule mit einigen Knaben, Fahnen und Fanfaren. Dann kommt der Bischof, in ein prächtig besticktes Gewand gekleidet, die Mitra auf dem Kopf. Doch wirkt dieser Hirte neben dem Domkapitel, das hinter ihm geht, seltsam klein. Es stellt sich beim Studium zeitgenössischer Quellen heraus, dass der soeben in Amt und Würden Eingeführte kaum älter als die vor ihm gehenden Schüler ist. Kein Wunder, er war bis vor Kurzem auch noch einer.
Als heutiger Betrachter möchte man fast reflexhaft den Kopf schütteln und etwas wie "Ämterhandel" und "Vetternwirtschaft" murmeln. Die Bischofswürde für ein Kind, vermutlich erkauft von irgendeinem reichen Verwandten, wie furchtbar! Und doch jahrhundertelang vielerorts in Europa ganz normal – also nicht (unbedingt) die Simonie, sondern dass ein Kind für einen festgesetzten Zeitraum Bischof wird. Denn das, was man im Paderborn des 18. Jahrhunderts noch als einen Bestandteil des sogenannten "Kappenganges" zur Einführung neuer Domherren kannte, ist ein letztes Überbleibsel des beliebten Bischofsspiels. Dieser Brauch, der modernen Katholiken vielleicht merkwürdig vorkommt, hatte doch durchaus seinen Sinn für die großen und kleinen Gläubigen des Mittelalters.
Ein Fest zu Ehren der Kinder
Kurz nach Weihnachten begeht die Kirche das Fest der Unschuldigen Kinder. Damit soll dem Bethlehemitischen Kindermord gedacht werden, von dem das Matthäusevangelium (Mt 2,16) erzählt. Der 28. Dezember muss sich rasch zu einem Festtag entwickelt haben, bei dem nicht nur den neutestamtlichen, sondern allen Kindern besondere Beachtung zukommt. So berichten die "Casus sancti Galli" des St. Gallener Chronisten Ekkehard für das Jahr 911 von einer "processio infantum" (dt.: Prozession der Kinder) im Rahmen eines Gottesdienstes, bei dem König Konrad I. anwesend war. Laut der Historikerin Tanja Skambraks von der Universität Mannheim, die zum Bischofsspiel geforscht hat, belegt eine französische Quelle aus dem 11. Jahrhundert dann erstmals die Sonderrolle eines einzelnen Jungen im Rahmen der Liturgie des Tages.
Bei einem Tag bleibt es nicht, das Fest dauert im Schnitt drei bis sechs Tage. In so gut wie jeder Stadt mit Domschule und so gut wie jedem Kloster mit Klosterschule gibt es Kinderbischöfe, in Augsburg sogar einen Kinderpapst – jedoch ohne, dass dessen Befugnisse weitreichender gewesen wären. Doch es wird nicht überall am 28. gefeiert: Als sich im Laufe des Mittelalters der Kult um den "Universalheiligen" Nikolaus in ganz Europa ausbreitet, wird er nicht nur zum Patron der Kinder, sondern auch zu dem der Schüler. Deshalb weicht man vor allem im englischen Kontext vom Fest der Unschuldigen Kinder ab und feiert es stattdessen am Vorabend des Nikolaustages. Mancherorts regiert der Kinderbischof gar vom 5. bis 28. Dezember.
Ein Junge auf dem Bischofsstuhl - biblisch begründet
Egal, wann gefeiert wurde, die zentrale Figur ist überall die gleiche: Aus den Reihen der Schüler oder Chorknaben wird ein Junge zwischen sieben und 14 Jahren ausgewählt. "Er wird mit den bischöflichen Insignien Mitra, Ring und Krummstab versehen und in liturgische Gewänder gekleidet", sagt Skambraks. Der kleine Würdenträger hatte dann eine ganze Reihe liturgischer Pflichten zu erfüllen. "Er stimmte die geistlichen Gesänge an, leitete Prozessionen und saß auch auf dem Bischofsstuhl." Laut Skambraks ein deutlich sichtbares Zeichen der Statuserhöhung.
Biblisch lässt sich das Bischofsspiel mit dem Magnificat begründen, in dem es heißt "Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen" (Lk 1,52). Die Vorstellung von einer Umkehrung der weltlichen Ordnung findet sich häufig in der mittelalterlichen Festkultur. Sie soll die geistliche wie weltliche Elite daran erinnern, dass all ihre irdische Macht vor Gott nichts wert ist. Doch für Skambraks liegt der Kern des Bischofsspieles darin, dass "der Niedrige hier auch das Kind ist. Kindern werden die Eigenschaften Reinheit, Demut und Unschuld zugeschrieben. Und da haben wir auch die Verbindung mit den Unschuldigen Kindern".
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Ein weiterer fester Bestandteil ist die Predigt des Kinderbischofs während der Messe. Handlungen, die eine Weihe voraussetzen, nimmt der Kinderbischof selbstverständlich nicht vor. Das obliegt einem Priester oder dem "echten" Bischof. Aus England sind der Nachwelt mehrere Kinderbischofspredigten erhalten geblieben. So spricht der Kinderbischof der St. Paul's Cathedral im Jahr 1489 über das Alter der Gläubigen – ein Thema, für das der Kinderbischof als Kind natürlich prädestiniert ist. Er stellt die Stärken und Schwächen der drei Menschenalter dar und "mahnt sowohl die Jungen als auch die Erwachsenen zu gutem Verhalten. Den Schülern sagt er: 'Ich bin ja einer von euch. Ich weiß, dass wir uns immer diszipliniert verhalten müssen. Ich weiß aber auch, dass das nicht immer einfach ist.' Dann bittet er die Lehrer auf humoristische Weise, die Schüler gut zu behandeln und statt sie mit Schlägen zu traktieren, ihnen lieber als gute Vorbilder voranzustehen."
Training für kirchliche Karriere
Nicht nur die Hörer der Predigt werden dabei etwas gelernt haben. Der Kinderbischof und seine kleine Entourage aus jungen Domherren und Kanonikern können auch etwas davon abbringen. Denn beim Bischof-Spielen lernen sie das Bischof-Sein kennen. Als Dom- oder Klosterschüler sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit für eine geistliche Laufbahn bestimmt und können so einmal vorfühlen, was ein geistliches Amt bedeutet.
Ein Kind in Bischofskleidern und die Umkehrung der Verhältnisse – das klingt schnell nach karnevaleskem Treiben. Und in der Tat hat das Bischofsspiel trotz seiner positiven Aspekte keinen guten Ruf. Daran trügen die Aufklärung sowie die ältere Geschichtsschreibung Schuld, sagt Historikerin Skambraks. Auf den britischen Inseln und in protestantisch geprägten Landstrichen starb das katholische Brauchtum nach der Reformation rasch aus. Für den katholischen Teil des Kontinents gilt eigentlich der Beschluss des Basler Konzils 1435 als offizielles Verbot. "Doch das Fest wird in vielen Fällen weitergefeiert, in den Statuten des Erzbistums Mainz wird es bis ins 18. Jahrhundert erwähnt", sagt Skambraks. Und in Paderborn zieht bis 1761 jedes Jahr ein Kinderbischof über den Marktplatz. Im darauffolgenden Jahr unterbleibt die Prozession – offiziell, weil man mit den Vorbereitungen nicht rechtzeitig fertig geworden sei und außerdem der Siebenjährige Krieg im Bistum tobe. Doch das sind nur vorgeschobene Gründe. Mittlerweile weht auch im deutschen Episkopat der Geist der Aufklärung, der abschätzig auf diesen mittelalterlichen Hokuspokus herabblickt.
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Eine kleine Welle aus Schriften gegen das Brauchtum rollt von Frankreich aus über Europa. Es werden vor allem die Vergehen der Jungen und der einfachen Gläubigen herausgestellt. Die beginnende Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert greift das auf. Mehrere Autoren hätten laut Skambraks die durchaus vorhandenen humoristischen Aspekte des Kinderbischofsfestes und die Berichte der Verfehlungen überbewertet. So habe man das Fest zu einer chaotischen Gegenwelt der ernsthaften Welt des Klerus stilisiert. Dabei gab es für die Zeitgenossen nur eine Welt, in der das Gebet genauso Platz hatte wie das ausgelassene Feiern. "Das Kinderbischofsfest zeigt die Buntheit der Frömmigkeit dieser Zeit", anstatt nur Zuschauer zu sein, wurden auch die Nicht-Kleriker in die Ausgestaltung der Liturgie und des Glaubens miteinbezogen.
Wirkmächtig - aber falsch
Außerdem vermischt man im 19. Jahrhundert das Bischofsspiel mit dem Fest der Subdiakone. Bei diesem Fest, das – auch durch Victor Hugos Darstellung im "Glöckner von Notre-Dame" – besser als Narrenfest bekannt ist, wurde ein Narrenbischof oder -könig gewählt. Andere Historiker stellen das Kinderbischofsfest in eine Reihe mit den Saturnalien im antiken Rom. Diese Vermischungen oder Analogien haben "mit der terminlichen Nähe der Feste im Dezember zu tun und damit, dass sie Umkehrungsfeste waren." Wissenschaftlich haltbar sind diese Theorien deshalb nicht. Die wirkmächtige Forschungstradition führt jedoch dazu, dass das Kinderbischofsfest als große Ausschweifung erscheint und seine spirituelle und liturgische Bedeutung lange Zeit keine Beachtung findet.
Erst Ende des letzten Jahrhunderts erfolgt eine Neubewertung des Brauchs. In den einstigen Hochburgen des mittelalterlichen Festes in England lässt man die Tradition wiederaufleben. Den Anfang macht die Kathedrale von Hereford 1973, mittlerweile gibt es Kinderbischöfe (hier wegen der langen Tradition der Kirchenchöre "Chorister Bishop", also Chorsängerbischof, genannt) auch in Norwich und Salisbury Cathedral sowie Westminster Abbey. In Deutschland werden seit einigen Jahren zu Nikolaus drei Kinderbischöfe in der evangelischen Nikolaikirche in Hamburg in ihr Amt eingeführt. Wie im Mittelalter werden sie mit Mitra, Ring und Krummstab bekleidet und dürfen am Vorabend des Nikolaustages eine Predigt halten. Nur eine Neuerung gibt es sowohl in England als auch in Hamburg: Mittlerweile dürfen auch Mädchen Kinderbischöfin werden.