Erstaunliches Ergebnis der Restaurierung des Genter Altarbildes

Warum sich Twitter über das Lamm Gottes lustig macht

Veröffentlicht am 14.02.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Es sei furchteinflößend und seltsam: Das Lamm Gottes des Genter Altars bringt Twitter-Nutzer aus der Fassung. Ausgerechnet am Kopf eines Schafes sollen Hubert und Jan van Eyck gescheitert sein? Nein, die bizarre Darstellung hat einen besonderen Grund.

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Es passiert nicht häufig, dass sich die Twitter-Community intensiv mit der Arbeit von Restauratoren befasst. Zumal bei Arbeiten, die sich über den Zeitraum von mehreren Jahren hingezogen haben. Doch im Falle des Genter Altars ist genau das passiert – wenn auch anders, als die Verantwortlichen sich das gewünscht hätten.

"Alptraumhaft" und "schockierend menschenähnlich": So beschreiben Twitter-User den Kopf des Lamm Gottes, ein etwa walnussgroßes Detail auf der zentralen Bildtafel der Innenseite des Altars. Jahrhundertelang hatte das Tier realistisch und recht sanft ausgesehen. Im Zuge der 2012 begonnenen Restaurierungen am spätmittelalterlichen Flügelaltar fanden die Experten um die Restauratorin Hélène Dubois aber heraus, dass fast die Hälfte der "Anbetung des Lammes" im Laufe des 16. Jahrhunderts übermalt worden war – um Schäden auszubessern aber auch um das Bild den Sehgewohnheiten der Zeit anzupassen. Unter dieser Farbschicht verbarg sich das fast perfekt erhaltene Original der Brüder Hubert und Jan van Eyck – mitsamt einer Darstellung des Gotteslamms, die auf Twitter Wellen schlug.

"Könige unter den Malern" – an einem Schaf gescheitert?

Die Kommentare reichen von Erstaunen bis Bestürzung. "Hubert und Jan van Eyck konnten realistisch Hände malen (das ist kompliziert!), den Kopf eines Schafes aber nicht?", fragt eine entgeisterte Userin. Andere ziehen schnell Vergleiche zu populären Filmfiguren: Das Lamm trage den gleichen Gesichtsausdruck wie das Männermodel Zoolander aus dem gleichnamigen Film. Und seine trichterartigen Ohren ähnelten denen des Ogers Shrek.

Doch worüber die Mehrheit der User spricht, sind nicht die Ohren, sondern die Augen des Tieres: Anders als bei der bisher bekannten Version und für Fluchttiere typisch liegen die nämlich nicht seitlich am Kopf. Stattdessen blickt das Lamm Gottes dem Betrachter mit nach vorn gerichteten Augen direkt entgegen, wie es eigentlich bei Raubtieren vorkommt – und eben beim Menschen. Der humanoide Charakter des Schafskopfes scheint die Menschen auf Twitter gleichsam zu verunsichern wie zu belustigen. Schnell kursieren Übermalung und Original nebeneinander als Meme. Die Schafe stehen dann beispielsweise für einen liebenden und einen strafenden Gott. Oder das sanft-blickende Schaf steht für eine Art "inhaltsloses Wohlfühlchristentum", während der Blick aus starren Schafsaugen die ganze Radikalität der Existenz Gottes vermittelt.

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Es dauert nicht lange, bis die User das Genter Lamm in eine Reihe mit spektakulär-missglückten Restaurierungen der letzten Jahre wie dem Ecce-Homo-Wandbild im spanischen Borja stellen. Das spöttisch "Affen Christus" genannte Kunstwerk war von einer unkundigen Rentnerin einfach übermalt worden. Gerade solche Vergleiche stören Chefrestauratorin Dubois. "Durch eine Reihe absolut dummer Tweets wurden eine Menge Missverständnisse verbreitet, die vollkommen aus dem Kontext unserer Arbeit herausgerissen sind", sagte sie bei der Präsentation des zurückgekehrten Altarbildes in der St.-Bavo-Kathedrale in Gent. Denn anders als beim "Affen Christus" waren hier Experten am Werk.

Das humanoide Schaf war Absicht

Das Team des Königlichen Instituts für das Kulturerbe, das Dubois leitet, hat nicht gestümpert, sondern das Original freigelegt. "Das ist das ursprüngliche Schaf der van Eycks, das später von jemand anderem übermalt wurde, um es wie ein passives Tier und anatomisch korrekter aussehen zu lassen", sagt Dubois und betont, die für moderne Augen ungewöhnliche Darstellung des Gotteslamms sei so von den Künstlern intendiert gewesen. Das hat auch nichts mit mangelnder Kunstfertigkeit zu tun: "Botaniker können jede einzelne Pflanze auf dem Altarbild identifizieren", so Dubois weiter. Neben interessanten Aufschlüssen über die Flora der Zeit belegt das hinreichend, dass Jan und Hubert durchaus naturalistisch malen konnten. Die Künstler haben sich beim Lamm Gottes gegen den Realismus entschieden, der ihr Altarbild ansonsten vom perspektivisch korrekten Panorama des mittelalterlichen Gent bis hin zu den millimeterkleinen Lichtreflexen auf den Blutspritzern über dem Kelch bestimmt. Fragt sich nur, warum?

Hubert und Jan van Eyck standen als sogenannte Flämische Primitive auf der Grenze zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance. Mit ihrer realistischen Malweise und dem vermehrten Einsatz von Ölfarben nahmen sie nördlich der Alpen quasi die Errungenschaften der italienischen Renaissance vorweg. Die durchaus theologisch gebildeten Maler orientierten sich bei ihrem Gotteslamm an einer langen christlichen Bildtradition. Sie waren nicht die Ersten, die das Lamm in dieser Weise malten, sagt auch Chefrestauratorin Dubois. "Es gibt ungezählte Beispiele aus dem Frühmittelalter oder der Spätantike, einschließlich römischer Mosaike, die uns das Lamm Gottes mit diesen großen, nach vorn gerichteten Augen zeigen."

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Diese Darstellungsweise erklärt sich damit, dass hier eben kein gewöhnliches Schaf auf dem Altar steht. Das Lamm Gottes, dessen Blut in einen goldenen Kelch sprudelt, ist eines der ältesten Symbole für die Selbstaufopferung Christi. Wie im Alten Bund Schafe geopfert wurden, weil sie aufgrund ihres weißen Fells als rein und unschuldig galten, gibt sich auch Jesus schuldlos für die Sünden der Menschen hin. Um den menschgewordenen Gott symbolhaft darzustellen, verliehen Hubert und Jan van Eyck wie viele Künstler vor ihnen dem Lamm Gottes menschliche Züge. Erst später – so zum Beispiel bei der Übermalung des Altarbildes, die Mitte des 16. Jahrhunderts stattgefunden haben soll – setzte sich eine realistische Darstellung gegenüber der symbolbetonten durch.

Restauratorische Millimeterarbeit

Chefrestauratorin Dubois kann den Spott auf Twitter nicht verstehen. Sie habe das originale Lamm Gottes aber auch anders kennengelernt als die meisten Menschen, die nur die Gegenüberstellung von Übermalung und Original auf Twitter gesehen hätten. Der sehr langsame Prozess der Freilegung der ursprünglichen Farbschicht, den die Restauratoren mithilfe von Skalpell und Mikroskop über vier Jahre hinweg vornahmen, habe einen Schock über die nach vorn gerichteten Augen verhindert. "Natürlich ist sein Blick intensiver, als ich erwartet habe", sagt Dubois. "Aber genau das hat mich bewegt. Man ist so gewöhnt an das passive, nüchterne Lamm und dann wird man konfrontiert mit dieser sehr ausdrucksstarken Vision der Selbstaufopferung Christi auf dem Altar. Hier ist Christus sich seines Opfers bewusst."

Wer sich selbst diesem intensiven Blick aussetzen oder auch nur die leuchtenden von vergilbtem Firnis befreiten Farben betrachten möchte, kann das seit Ende Januar tun. Nach Abschluss der Arbeiten kehrte die "Anbetung des Lammes" zusammen mit den unteren Bildtafeln der Festtagsseite wieder in die St.-Bavo-Kathedrale in Gent zurück. Der Transport vom Museum für Schöne Künste, wo die Konservierung stattgefunden hatte, zur Kathedrale fand unter höchster Geheimhaltung und dem Schutz der belgischen Armee statt. Damit ist die zweite Phase der Restaurierungen abgeschlossen, die vor acht Jahren mit den Tafeln der Außenseite begonnen hatten. Die oberen Tafeln der Innenseite warten derweil noch auf ihre Behandlung, weil die Finanzierung noch nicht gesichert ist. Ein Argument für die Weiterführung wäre auf jeden Fall, dass sich auch hier spektakuläre Entdeckungen unter jüngeren Farbschichten verbergen könnten. Dubois zufolge ist allein die Figur des Christus Weltenherrscher fast vollständig übermalt.

Von Cornelius Stiegemann