Neue Biografie: Johannes Paul II. sah Missbrauch nicht als Priorität
Das Unterschätzen der sexuellen Missbrauchskrise war nach Einschätzung des Journalisten und Autors Matthias Drobinski der größte Fehler von Papst Johannes Paul II. (1978-2005). "Was diesen Papst im Kampf gegen die Kommunisten stark machte, führte im Umgang mit der sexuellen Gewalt in die Katastrophe", sagte Drobinski im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Unter dem Strich war für ihn eine starke, unverwundbare Kirche wichtiger als der Blick auf die Opfer", so Drobinski.
An vielen Beispielen könne man sehen, dass Johannes Paul II. "alle Zeichen übersah: beim Wiener Kardinal Hans Hermann Groer; in Boston 2002; am dramatischsten im Umgang mit Marcial Maciel". Der Papst habe den Gründer der Legionäre Christi geschützt, "obwohl es schon früh glaubwürdige Zeugenaussagen gab, dass dieser Mann ein Gewalttäter war". Maciel (1920-2008) habe der Kirche eine Art Kampftruppe zur Seite gestellt, so Drobinski; "er stand auf der Seite des Papstes". Da sei das "taktische Argument" stärker gewesen, "sich nicht durch das Einräumen von Schwäche und verbrecherischen Strukturen spalten zu lassen".
Revolutionär und Reaktionär zugleich
Gemeinsam mit dem langjährigen Osteuropa-Korrespondenten Thomas Urban hat Drobinski, Kirchenexperte der "Süddeutschen Zeitung", eine neue Biografie zum 100. Geburtstag von Karol Wojtyla/Papst Johannes Paul II. (18. Mai) vorgelegt. Drobinski beschreibt Johannes Paul II. als einen Revolutionär und einen Reaktionär zugleich. "Angefangen davon, dass er mit den jüdischen Jungs Fußball spielte, bis dahin, dass er sich als Student bei einem sehr traditionellen Lehrer als Habilitation ein Doktorthema zum Miteinander von moderner Philosophie und Theologie wählte", habe Karol Wojtyla viel Neues in die Kirche gebracht, sagte Drobinski.
Revolutionär sei auch seine generelle Skepsis gegenüber dem Materialismus und auch gegenüber dem Kapitalismus gewesen, so der Autor. Für Johannes Paul II. sei die Würde der Person zentral gewesen. Die Person sei für ihn mehr "als eine Summe ihrer Umstände - wie im Kommunismus - oder als Summe ihrer Leistungsmöglichkeiten wie im Kapitalismus".
Der Reaktionär Johannes Paul II. gründete laut Drobinski in seinen Lebenserfahrungen. Die polnische Kirche habe sich immer im Widerstand befunden, gegen die deutsche Besatzung, danach gegen die Kommunisten. "Seine Erfahrung aus der polnischen Untergrundkirche war", so Drobinski: "Wir sind nur dann stark und dann gut, wenn wir zusammenstehen; wenn zwischen uns keine Lücke entsteht."
Innerkirchliche Diskussionen betrachtete der Papst aus Polen demnach als eher unangebracht. "Ein westlicher Pluralismus - also sich als Kirche und in der Kirche als einer unter vielen in der Diskussion behaupten zu müssen - das war ihm fremd, ja sogar eine Bedrohung", so der Autor. Dieses Denken sehe man in vielen seiner Entscheidungen, etwa seinen Bischofsernennungen bis hin zum Umgang mit sexuellem Missbrauch. Durch die Maxime "Wir dürfen uns nicht spalten lassen, wir müssen kampffähig bleiben für die Menschenwürde" seien "viele wichtige Debatten in der Kirche zum Stillstand gebracht" worden, so Drobinski. (tmg/KNA)