Erzbischof Koch: "So eine Zeit habe ich noch nie erlebt"
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So habe ich es noch nie erlebt. So habe ich diese Zeit noch nie erlebt. Noch vor wenigen Wochen konnte ich es mir noch nicht einmal im Traum vorstellen, dass eine ganze Gesellschaft sich ruhigstellt, anders lebt. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass so eine Bewegung, wie wir sie gerade erleben, denkbar ist. Aber ich habe vieles erlebt, positives wie schwieriges. Ich habe erlebt wie die Welle der Corona-Pandemie aus China zu uns herüberkam. Wir haben die Bilder gesehen und waren ungläubig und froh, dass es bei uns nicht passierte. Dann kam sie und nichts und niemand konnte sich ihr entziehen.
Es ist schon gewaltig, was es an Einschnitten dann gab. Ich fand es erstaunlich, dass es doch die überwiegende Zahl der Menschen war, die sich den Anweisungen, den plötzlichen Forderungen, den Einschnitten in ihr Leben, gestellt haben. Ich bin hier gerade in Berlin sehr erstaunt wie friedlich dies von statten gegangen ist. Auch wenn ich zunehmend merke, wie viele Menschen darunter leiden und Sorgen haben. Ich denke an die persönlichen Leiden. Es ist für viele schwer, dass sie ihre Enkel nicht mehr sehen und andere haben Angst um ihren Beruf, haben Ängste um ihre wirtschaftliche Zukunft und das ist alles berechtigt. Auch wenn wir in einem Land leben, dass recht wohlhabend ist und wo die Regierung sich sehr um das Wohl der Menschen und auch der Wirtschaft kümmert. Bisher fällt keiner ins Uferlose, aber die bange Frage bleibt, wo führt das hin, wie lange dauert es, wann kommt der nächste Virus?
Vieles ist nicht mehr selbstverständlich
Vieles was uns selbstverständlich war, ist nicht mehr selbstverständlich. Das Eis ist dünn, auf dem wir stehen. Wir spüren das jetzt. Manche Fragen werden auch grundsätzlich gestellt. Ich bin erstaunt, in wie vielen Medien ich derzeit auftrete und wie viele Briefe und Mails ich auch von Nichtchristen bekomme. Nein, diese Krise hat schon einiges ausgelöst, vieles ausgelöst und in Frage gestellt. Von der gesellschaftlichen Wirksamkeit erinnert sie mich ein bisschen an die Katastrophe, die erste große gesellschaftliche Katastrophe, die ich erlebte, 2001 als die Terroranschläge auf die Wirtschaftstürme in New York kamen und die Angriffe auf Washington. Damals hörte die Spaßgesellschaft der neunziger Jahre auf zu existieren. Vieles, was selbstverständlich war, dieser oft oberflächliche Optimismus, war wie vom Tisch gefegt. Werden wir auch jetzt solche Änderungen erwarten können? Wird sich vieles verändern?
Ich habe Ängste und Nöte erlebt, ja das stimmt, aber ich habe auch vieles erfreuliche erlebt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Solidarisierung und die Solidarität in konkreten Dingen so weit um sich greift. Wie viele auch junge Menschen kümmern sich um ältere. In ihren Familien selbstverständlich. Wie viele Menschen engagieren sich etwa in der Tafel hier in Berlin, um den Menschen, die ihre Wohnung nicht verlassen können oder wollen oder dürfen, Nahrung zu bringen. Wie viele Zeichen der Verbundenheit werden gesetzt, die vorher fast aus der Mode waren. Ich denke an geschriebene Briefe oder an Anrufe bei Menschen, die ich sonst ein wenig aus dem Blick verloren habe. Auch in unseren Gemeinden erlebe ich, wie man sich wirklich sorgt um die Menschen, die zur Gemeinde gehören und doch jetzt plötzlich allein sind und vielleicht Angst haben. Nein, nein, es ist vieles passiert in dieser Gesellschaft, auch zum Positiven.
Auch in Fragen der Politik wird sich manches verändern. Globalisierung sagt man. Das war ein Obergesetz des kulturellen, des wirtschaftlichen Lebens. Alles ist globalisiert und plötzlich kommen die ersten und fragen: Müsste man nicht zumindest in einigen Bereichen auch deglobalisieren? Wir denken an die Fragen der Medikamentenversorgung aus China und viele Fragen sich: Wäre es nicht wichtig, dass wir in diesen Punkten wieder unabhängiger werden? Aber können wir uns eine entglobalisierte Gesellschaft überhaupt noch vorstellen und ist sie wünschenswert? Fragen über Fragen.
Besitzen und festhalten
Manchmal haben wir geschmunzelt über Hamsterkäufe. Es ist schon erstaunlich, was die einzelnen Nationen vor allen Dingen hamstern. Wir Hefe, Nudeln und Klopapier. Aber gestern habe ich noch ein Gespräch mit jemandem geführt, der angesichts dieser Hamsterkäufe sich fragt, ob wir nicht eigentlich in den reichen Ländern Europas ähnliches machen wie bei den armen Ländern der Welt. Wir haben es und halten es auch fest. Manches vielleicht völlig überflüssigerweise, andere leiden darunter. Wird man diese Frage nach den Hamsterkäufen der Corona-Krise noch einmal neu stellen? Zweifelsohne viele Fragen. Viele gute Erfahrungen, aber auch schwierige Erfahrungen. Ich bin froh, dass wir als Christen, in der katholischen und evangelischen Kirche hier in Berlin, diesen Weg mitgehen, sehr bewusst mitgehen. Auch da, wo es uns schwer wird und schwerfällt.
Die Einschränkung der Gottesdienstmöglichkeiten tut weh. Ich kann mich genau entsinnen, als ich die ersten Gottesdienste, zwar im Livestream übertragen oder in den öffentlichen Fernsehanstalten bei RBB und im Rundfunk, doch sehr merkwürdig fand. Die leere Kirche, nur einige wenige Leute, die das technische Problem zu lösen hatten, einige, die wirklich mitmachen, aber viele, die wirklich mitfeiern wollten, mussten zu Hause bleiben. Inzwischen ist es mir ein wenig vertrauter geworden, auch wenn diese leere Kirche mich immer noch verunsichert. Denn ich erlebe, wie viele Menschen diese Gottesdienste erleben und miterleben und sie schau ich an, wenn ich in die Kamera schaue. Ich schau niemanden mehr in der Kirche an, sondern ich schaue die Menschen durch die Kamera an. Und sie berichten mir oftmals, wie sie diesen Gottesdienst gefeiert haben. Ich habe vorgestern ein wunderschönes Video bekommen von einem Gottesdienst, den wir hier gehalten haben, den die junge Familie mit ihren drei kleinen Kindern miterlebt hat. Sie hatten ihren drei kleinen Kindern, ich würde mal sagen vier, sieben und zehn Jahre alt, Tücher umgelegt und alle drei waren Messdiener. Alle drei haben den Tisch gedeckt und die Kerzen angezündet, Blumen und das Kreuz hingetragen. Und alle drei hatten vor sich eine Glocke stehen und mussten bimmeln zu Beginn und bei der Wandlung. Der älteste hielt bei der Gabenbereitung die Kollekte bei seinen Eltern. Das war nicht ein Spiel, sondern das war ein Mitvollziehen des Gottesdienstes.
Eine Dichte unter den Gläubigen
Ich spüre auch in unserer Gemeinde eine große Dichte, auch wenn wir an verschiedenen Orten sind, sind wir dennoch miteinander verbunden. Ich merke, dass das auch eine geistliche Tiefe ist. Vielleicht lernen wir die Bedeutung der Eucharistiefeier jetzt neu kennen, dass es wirklich eine Frage der Danksagung ist. Dank wirklich zu danken, dass wir zusammen sind und zusammen bleiben können. Bei allen Schwierigkeiten, ich bin froh, das wir viel im Gebet miteinander verbunden sind. Viel auch für einander beten. Ich bin froh, dass ich mit vielen telefonieren kann.
Zu den bereicherndsten Erlebnissen gehören für mich im Moment die Gespräche mit den alten Priestern. Ich bin bald so weit, dass ich die meisten oder alle der alten Priester, die im Ruhestand sind, angerufen habe und zum ersten Mal komme ich in ein ganz persönliches Gespräch mit ihnen. Ein dichtes Gespräch, ein sehr von persönlichen Erfahrungen und der Geschichte geprägtes Gespräch. Ich merke, wie wichtig es ist, Zeit und Ruhe zu haben, etwas was wir vielleicht sonst nicht haben. Wir lernen auch das Zuhören jetzt ganz neu. Übrigens gestern, als ich telefonierte, war unter der Nummer, die mir angegeben war, ein fremder Mann. Ich stellte mich vor, "Erzbischof Heiner Koch, Herr Pastor ich wollte einfach mal fragen wie es Ihnen geht und ob wir etwas für Sie tun können." "Ich bin Atheist", kam mir entgegen. "Ich habe mich wohl verwählt, aber ich wünsche Ihnen trotzdem ein frohes und gesegnetes Osterfest", sagte ich. "Ich bin Atheist." "Dann lassen Sie sich nicht länger stören", sagte ich. "Nun seien Sie nicht beleidigt", rief er mir entgegen, "Ich wollte Ihnen sowieso was mal sagen." Und plötzlich kam er mit diesem Schnauzkommentar in ein ganz tiefes Gespräch über sich und ich merkte plötzlich, dass dieser angebliche Atheist doch einen Glauben hatte, vielleicht nicht meinen, aber er hatte einen Glauben. Man bedenkt auch die Tiefe der Menschen, dass sie manchmal ganz anders sind.
Wir tragen ach, was schwer ist
Ich denke in diesen Tagen auch an die weit über hundert Erwachsenen, die in dieser Osternacht die Taufe hätten empfangen sollen, zum Teil im kleinen Kreis außerhalb der Kirche empfangen werden. Es ist mir schon ein arges daran denken, dass sie nicht diese Festlichkeit, Taufe, Erstkommunion und Firmung in dieser Osternacht erleben werden. Aber ich habe oftmals an sie gedacht, weil ich merkte, dass diese Menschen wissen, was Ihnen der Glaube bedeutet, auch der Osterglaube, der Glaube, der für sie nicht selbstverständlich war, sondern zu dem sie sich bekehrt haben. Ein wenig denke ich immer, hoffentlich bedeutet Dir der Glaube an Ostern auch so viel wie ihnen. Und wie gut ist es, dass sie jetzt oder später zu uns kommen werden. Auch das gehört für mich zu Ostern, die nicht vollzogenen Taufen zu diesem Zeitpunkt.
Aber, ich bleibe dabei, wir vollziehen diese Punkte mit. Wir vollziehen sie in unserer Gesellschaft mit aus Solidarität mit der Gesellschaft. Wir gehen als Christen, als Katholische Kirche keinen Sonderweg, wir tragen es auch was schwer ist. Andere müssen viel schwereres tragen und freuen uns auf den ersten gemeinsamen Gottesdienst, den wir einmal wieder feiern werden. Aber jetzt feiern wir auch so Gottesdienst, es ist keine gottesdienstlose Zeit. Mir ist aufgegangen, dass in dieser Zeit des Osterfestes des Jahres 2020 vielleicht ein Aspekt ist: Der Wachruf, mit dem Ostern immer zu tun hat und uns vielleicht nur theoretisch nahe war.
Ich habe oft an die Jünger gedacht, die an Ostern in eine furchtbare Krise gekommen waren. Sie sahen den, von dem sie glaubten, dass er der Messias ist, am Kreuz. "Wenn Du Gottes Sohn bist, komm herunter, steig herunter." Er blieb hängen bis zum Tod, er litt und duldete. Er ist nicht der Machtvolle gewesen, der alles wieder zurechtrückte. Das ist eine Revolution, eine Krise des Gottesbildes, das die Jünger lernen mussten. Es heißt, dass der mit den Wunden doch Gott ist. Die zweite Krise war dann, als die Frauen erzählten, dass das Grab leer ist. Der Stein ist weggerollt und sie haben es nicht geglaubt. Die Erfahrung plötzlich zu machen, dass das Leben mehr ist als wir sehen, wissen, verstehen und machen können. Eine Krisenerfahrung, die wir auch in dieser Zeit gerade machen. Und die dritte Krise ist sicherlich, dass die Jünger spürten, dass man nicht als distanzierter Beobachter die Wahrheit des Osterfestes erfahren kann. Dass Christus wirklich lebt, nur als einer, der sich auf diesen Jesus Christus einlässt, mit ihm lebt, ihn ernst nimmt, nur dann kann ich Gott erfahren, wenn ich mich auf ihn einlasse. Das war die dritte Krise.
Eine Krise, der niemand ausweichen kann
Eigentlich denke ich mir, ist uns gerade in diesem Krisenjahr bewusst, dass wir dieser Krise auch nicht ausweichen können. Diese Krise unseres Glaubens an Ostern, diese Krise, dass Gott manchmal so anders ist als wir ihn uns wünschen. Und wir sehen, dass dieser Gott nicht mit einem Mal die ganze Corona-Krise wegpustet, dass Gott anders ist und wir ihn oftmals nicht verstehen können, aber er leidet mit und ist bei uns mitten in dieser Krise. Die Krise, das viel mehr ist, dass die Welt viel mehr ist als wir berechnen können, das merken wir Tag für Tag. Wir müssen uns neu auf den Auferstandenen einlassen. Er lebt mit uns und wir leben mit ihm. Das sind unsere christliche Hoffnung und unser Glaube. Darum geht es. Insofern lerne ich vielleicht auch in diesen Tagen, im Osterfest des Jahres 2020 neu und tiefer zu glauben. Es kann eine Bereicherung für mich sein, ein Stück lernen des Glaubens. Nicht etwas, was mir leicht fällt, schon gar nicht etwas was ich mir gewünscht hätte. Aber die Chance ist da. Im Chinesischen besteht das Wort Krise aus zwei Zeichen. Das eine heißt Gefahr, ja jede Krise ist eine Gefahr und eine Bedrohung zweifelsohne ist diese Krise. Und Herausforderung, ja jede Krise ist auch eine Herausforderung. Ich hoffe, dass viele sich dieser Herausforderung stellen in dieser Gefahr. Dass sie lernen, größer Solidarität zu halten, lernen, neue Wege, achtsame Wege aufeinander zu zugehen, einfühlsam, sorgend. Lernen, auch etwas zu ertragen, zu erdulden, was uns wirklich schwer fällt im mitmenschlichen Miteinander. Lernen, auch Gemeinde und Kirche zu bilden auf ungewöhnliche Weise, so wie wir es uns wahrscheinlich nie erträumt hätten. Wir spüren, dass Gott in dieser Krise bei uns ist, inmitten der Krise und in unserer Gemeinde.
Insofern gehe ich mit viel Hoffnung in das Osterfest. Mit Hoffnung auf den Auferstandenen und mit viel Hoffnung auf die Menschen, mit denen ich in dieser Zeit jetzt gute Erfahrungen machen durfte. Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Osterfest, ich wünsche Ihnen allen im Herzen frohe Stunden ,ohne dass das ein blinder Optimismus ist oder eine oberflächliche Freude im Sinne von "Es hat immer schon gut gegangen." Nein nein, es ist manches schwer. Eine Freude, die ihren Grund darin hat, dass Gott bei uns ist, dass Christus bei uns ist, auch in der Nacht. Ostern begann eben in der Nacht, in der Osternacht damals, doch jetzt im Jahr 2020.