Nach Corona-Ausbrüchen in Fleischbetrieben – ein rechtlicher Graubereich

Sozialpfarrer Kossen: Kirchen beim Thema Arbeitsmigration zu profillos

Veröffentlicht am 30.05.2020 um 12:13 Uhr – Lesedauer: 

Bonn/Lengerich ‐ Mehrbettzimmer, 12 Stunden Arbeit, keine Ruhe – und das alles für 1.000 Euro Lohn. Seit Jahren macht Pfarrer Peter Kossen auf die schlechten Bedingungen für Arbeitsmigranten aufmerksam. Seiner Ansicht nach hätte auch die Kirche eine große Macht, etwas daran zu ändern – unterlasse das aber.

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Vor allem in der Fleischbranche zeigten Ausbrüche des Coronavirus die schlechten Bedingungen, in denen Arbeitsmigranten leben und beschäftigt sind. Seit vielen Jahren macht Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich in Westfalen auf die Zustände aufmerksam. Er weiß, was Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa für ein vermeintlich besseres Leben in Kauf nehmen müssen und kritisiert diejenigen, die durch diese Ausbeuterei groß geworden sind. Die Kirchen sind seiner Ansicht nach in diesem Punkt "zu profillos" – obwohl sie eine große Macht hätten.

Frage: Pfarrer Kossen, Sie engagieren sich schon seit Jahren für Arbeitsmigranten, unter anderem in der Fleischbranche. Sind Sie froh – wenn man das so nennen kann –, dass das Thema jetzt so stark öffentlich wahrgenommen wird?

Kossen: Ja, ich bin sehr froh darüber, weil das die Möglichkeit bietet, politische Entscheidungen zu treffen, um bestimmte Strukturen zu verändern – in der Fleischindustrie, aber auch in anderen Branchen: Strukturen der Ausbeutung, der Abzocke, ungerechte Strukturen moderner Sklaverei. Gerade jetzt sind Empörung und Sensibilität in Öffentlichkeit und Politik groß.

Frage: Die Regierung hat angekündigt, Leiharbeit in der Fleischindustrie einschränken zu wollen. Sehen Sie noch weitere Durchbrüche?

Kossen: Erst einmal scheint es mir wichtig, in der Fleischindustrie – wie gesagt, es gibt auch andere Bereiche, die folgen müssen – die Verdrängung der Stammbelegschaft durch atypische Beschäftigungsmodelle, Werkverträge und Zeitarbeit anzugehen und rückgängig zu machen. Diese verhängnisvolle Entwicklung begann in den 90er Jahren. Man hat meines Erachtens aus der Motivation von Lohn- und Sozialdumping diese Beschäftigungsform gewählt und Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa angeworben – und letztlich missbraucht für einen Bruchteil dessen, was diese Arbeit zuvor gekostet hat. Wenn sich die Bundesregierung das grundsätzlich anschauen und regulieren will, ist das sehr zu begrüßen.

Frage: In welchen Verhältnissen arbeiten diese Menschen?

Kossen: Sie arbeiten oft in einem arbeitsrechtlichen Graubereich, manchmal geradezu in einem rechtsfreien Raum, auch wenn das in Deutschland nicht möglich zu sein scheint. Durch das Auslagern von Arbeit in Sub- oder Subsubunternehmer erkennt man gar nicht mehr, wer dafür Sorge trägt, dass Arbeit sicher geschieht und der Lohn ausgezahlt wird. Mein Bruder ist Mediziner. In seine Dorfarztpraxis im Oldenburger Land kommen jeden Tag Arbeitsmigranten, Frauen und Männer. Er beschreibt oft in drastischen Worten, was ihre Arbeit mit ihnen macht: Selbst junge Leute sind schon nach wenigen Jahren so verschlissen, weil sie körperlich und psychisch enorm unter Druck stehen – durch die kräftezehrende Arbeit und auch eine ständig angetriebene Angst um ihren Job.

Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kontrolliert nicht sehr dicht in diesem Bereich. Doch wenn sie kontrolliert, findet sie in der Regel heraus, dass diese Werkvertragsarbeiter etwa 167 Stunden nach Mindestlohn bezahlt bekommen haben. Faktisch haben sie aber 240 Stunden oder mehr gearbeitet. Oft werden von den Arbeitgebern Luftnummern in Rechnung gestellt, wie die Benutzung des Pausenraumes, Werkzeug oder Arbeitskleidung – auch wenn das noch nie legal in Deutschland war –, der Transport zur Arbeitsstelle oder der Schlafplatz. Trotz Schwerstarbeit und so vielen Stunden erhalten die Arbeiter mitunter nur 1.000 Euro Lohn. Manchmal gibt es auch willkürliche Strafgelder für angeblich schlecht gereinigte Messer. Wenn man an all diesen Stellschrauben dreht, kommt man wieder deutlich unter den Mindestlohn. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sehen oft keine Möglichkeit, ihr Recht einzuklagen. Der Betriebsrat ist ebenfalls nicht für sie zuständig, weil sie keine Betriebsangehörigen sind. In der Gewerkschaft sind sie in der Regel nicht. Oft sprechen sie kein Deutsch oder haben keine Möglichkeit, die Sprache zu lernen. Damit schalten die Unternehmer ihnen alle Wege aus, ihr Recht geltend zu machen.

Bild: ©industrieblick/Fotolia.com (Symbolbild)

Menschenunwürdig und gesundheitsgefährdend: So sieht Pfarrer Peter Kossen die Bedingungen für Arbeitsmigranten – nicht nur in der Fleischbranche.

Frage: Hinzu kommt dann noch die Wohnsituation. Wie sieht es da aus?

Kossen: Mein Bruder macht auch Hausbesuche und sieht, wie sich das Leben in den Bruchbuden gestaltet. Ein Grundproblem ist, dass die Leute nicht zur Ruhe kommen. Nach 12 Stunden Arbeit – manchmal mehr – können sie sich nicht zurückziehen und regenerieren, weil sie in mehrfach belegten Zimmern wohnen. Es gibt kleine und schlechtbelüftete Räume, die Sanitäranlagen sind oft dürftig und erbärmlich. Schnell spielt Alkohol eine Rolle, ebenso Gewalt und Drogen, manchmal auch Prostitution. Das ist nicht nur menschenunwürdig, sondern auch hoch gesundheitsgefährdend.

Frage: Warum denken Sie, ist die Fleischbranche so anfällig dafür?

Kossen: Die Fleischbranche hat die Ausbeutung von Menschen auf die Spitze getrieben und andere Wirtschaftszweige haben sich daran ein Beispiel genommen. Genau kann ich das nicht sagen, eine Antwort findet man wahrscheinlich in der Psychologie. Letztlich sind Unternehmer damit groß geworden. Die wenigen Großen, die es noch gibt, teilen den Markt unter sich auf, weil sie alle Mitbewerber herausgedrängt haben. Ich kenne einige von denen und frage mich, wie sie nachts überhaupt Schlaf finden.

Frage: Wieso wird und wurde in der Politik nur wenig dagegen getan?

Kossen: Das hat mit Lobbyismus zu tun. Lange haben Entscheider in der Industrie viel dafür getan, auf die Politik einzuwirken, um eine Veränderung aufzuhalten. Immer wieder lief es so, dass zum Beispiel Selbstverpflichtungserklärungen unterzeichnet wurden, um dann genauso wie zuvor weiterzumachen. Die Problematik ist schon seit Jahren bekannt. In der Öffentlichkeit hieß es oft – und die meisten haben es geglaubt –, es sei im Grunde eine Win-Win-Situation: Die Leute aus Ost- und Südosteuropa kommen aus Perspektivlosigkeit nach Deutschland und verdienen ein Vielfaches vom rumänischen Mindestlohn. Objektiv betrachtet stimmt das sogar. Doch es rechtfertig in keiner Weise, diese Menschen derart schlecht als Arbeitnehmer zweiter oder dritter Klasse zu behandeln: ohne Sozialrechte und ohne Arbeitsschutz.

Frage: Mit Sicherheit sind auch in der Gesellschaft Gründe zu finden. Warum nehmen wir mit dem Kauf von Billigfleisch in Kauf, dass Arbeitsmigranten so leben und arbeiten müssen?

Kossen: Das hat sicher damit zu tun, dass in Deutschland Lebensqualität auch an der Vielfalt der Auswahl und an günstigen Lebensmitteln festgemacht wird. In Ländern wie Italien und Frankreich geben die Menschen einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für gute Lebensmittel aus. Hierzulande wird der Zusammenhang von wertvollen Nahrungsmitteln und einem Preis, den das verdient, nicht ohne weiteres gesehen oder ausgeblendet. Ich sage mal etwas zynisch: Der Grill darf schon mal 2.000 Euro kosten, die Bratwurst aber keinen Euro. Ich esse eigentlich auch gerne Fleisch, habe aber in den letzten Jahren gelernt, dass das nicht gesund ist. Es hat schließlich etwas mit Nachfrage zu tun: Wenn ich Lockangebote wie ein Kilo Hähnchenschenkel für 1,99 Euro sehe, kann das eigentlich nicht gehen. Das funktioniert nur, wenn eine Schlachterei 420.000 Hähnchen am Tag schlachtet – mit all den Rahmenbedingungen, die wir kennen oder ahnen. Aber es gibt eine Nachfrage dafür, das ist leider so.

Eine Fleischtheke im Supermarkt.
Bild: ©contrastwerkstatt/Fotolia.com (Symbolbild)

Für faire Arbeitsbedingungen wären viele Menschen bereit, mehr Geld für das Fleisch zu bezahlen, beobachtet Pfarrer Kossen.

Frage: Wäre eine nötige Konsequenz, Fleisch nicht mehr bei Discountern zu kaufen?

Kossen: In manchen Regionen haben wir fast keine Alternative. Anders als in Süddeutschland sind Handwerksfleischer in Norddeutschland kaum noch zu finden. Aber es wäre schon damit etwas gewonnen, wenn man auf dem Produkt erkennen könnte, woher es kommt und ob die Arbeitsbedingungen fair waren. Viele Menschen sagen immer wieder, dass sie bereit wären, einen Euro für das Kilo Fleisch mehr zu zahlen, wenn sie wüssten, dass neben den Arbeitsmigranten ebenso die Landwirte fair behandelt werden, die ja auch Leidtragende dieses Systems sind. Der Konsument kann das im Moment kaum sicherstellen, wenn er nicht gerade einen Hofladen zum Einkaufen hat.

Frage: In welchen Bereichen außerhalb der Fleischindustrie gibt es diese schlechten Verhältnisse für Arbeitsmigranten?

Kossen: Eine ganz hässliche Seite dieses Menschenhandels ist der Frauenhandel, die Zwangsprostitution. Ansonsten in der Logistik, also bei LKW-Fahrern. Auch bei Busfahrern, wobei geschaut werden muss, wie weit da von öffentlicher Hand so viel Druck ausgeübt wird auf Busunternehmen, dass sie nur noch mit rumänischen Busfahrern unter Tarif fahren können. Hinzu kommen Paketdienste und insgesamt der Versandhandel. In Winsen an der Luhe hat es in einem Versandzentrum etliche Corona-Fälle gegeben. In Hückelhoven ist ein Versandzentrum zugemacht worden. Oft sind dort Personaldienstleister und Subunternehmer beteiligt, die auch Menschen aus Ost- und Südosteuropa beschäftigen – zu ähnlichen Bedingungen wie in der Fleischbranche. Im Reinigungsgewerbe ist das teilweise so, manchmal auch in der Bauindustrie und im Metallbau. Und ich höre auch, dass es – aber nicht überall – auch im Gemüse-Anbau so ist.

Frage: Sie sind in diesem Bereich ja eine deutliche Stimme aus der Kirche. Welche Rolle spielt die Kirche in diesem Zusammenhang und finden Sie, dass sie genug dagegen tut?

Kossen: Die Kirche spielt eine sehr schwache Rolle dabei. Eigentlich hätten wir, die großen Kirchen – also die katholische Kirche und die evangelischen Kirchen –, eine große Marktmacht. Zum Beispiel, wenn wir bei unseren Bildungshäusern, Altenheimen und Krankenhäusern kirchlicher Natur strenge Regeln hätten, wie wir einkaufen: regional, saisonal, fair. Das würde den Markt in Deutschland deutlich beeinflussen. Einzelne Häuser machen das schon und können trotzdem bestehen. Aber die Kirchen sind zu schwerfällig, dafür verbindliche Regeln aufzustellen und sich in der Öffentlichkeit deutlich zu positionieren. Das hat sicher auch mit Konditionen, wie Landverpachtungen zu tun. Die Kirchen sind meines Erachtens zu profillos – sicher auch aus Sorge, mit Kirchensteuerzahlern in Konflikt zu geraten. Ich bin sehr gerne Mitglied in der KAB und bei Kolping. Auch dort engagieren sich Leute, worüber ich froh und dankbar bin. Doch in der Fläche erlebe ich die Sozialverbände eher als müde bis hin zur nicht vorhandenen Bereitschaft sich mit den Mächtigen anzulegen. Wir müssen als Kirchen nicht ständig auf Randale und Krawall machen, doch vom Evangelium und unseren jüdisch-christlichen Wurzeln her haben wir eine Verpflichtung, prophetisch und sozialkritisch

Von Melanie Ploch