Ägyptischer Historiker Farag zur Lage in seinem Land

"Versöhnung ist der Schlüssel"

Veröffentlicht am 26.08.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Ägypten

Bonn ‐ Anfang Juli kam Wessam Abdel Farag für Forschungen ans Zentrum für Religion und Gesellschaft der Universität Bonn. In Kürze wird der Professor für Mittelalterliche Geschichte wieder in sein Heimatland zurückkehren - wo in der Zwischenzeit Präsident Mohammed Mursi gestürzt wurde. Immer neue Unruhen erschüttern seither das Land am Nil. Im Interview nimmt der 67-jährige Muslim Stellung zu den Hintergründen des Konflikts.

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Frage: Herr Farag, mit welchem Gefühl reisen Sie jetzt nach Ägypten zurück?

Farag: Mit einem Gefühl der Hoffnung. Der Hoffnung, dass wir den Traum von einem Ägypten in Freiheit und Demokratie wieder zurück auf die Spur bringen können.

Frage: Danach sieht es derzeit eher nicht aus. Warum kommt das Land nicht zur Ruhe?

Farag: Das liegt vor allem an den Muslimbrüdern. Sie wollen den Kreislauf der Gewalt in Gang halten, um nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi die internationale Staatengemeinschaft zum Eingreifen zu bewegen und auf diesem Umweg wieder an die Macht zu kommen.

Frage: Aber trägt nicht auch das Militär zur Eskalation bei?

Farag: Sicher lief da einiges aus dem Ruder. Aber wie erklären Sie sich, dass Demonstranten der Muslimbruderschaft Kalaschnikow-Gewehre mit sich führen, dass Sicherheitskräfte getötet werden, dass Heckenschützen auf Hausdächern sitzen? Die Armee tut das , wofür sie seit den Anfangstagen des modernen ägyptischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert da ist: Sie steht im Dienste des Volkes, nicht der Regierung - und verschafft insofern dem Willen der Mehrheit Geltung.

Wessam A. Farag aus Alexandria, Ägypten, ist im Sommer 2013 zum wiederholten Male Gastprofessor am ZERG an der Universität Bonn. Das ZERG ist eine fakultätsübergreifende Einrichtung und widmet sich Fragestellungen aus "Religion und Gesellschaft". In seiner Heimat lehrt Professor Farag Mittelalterliche Geschichte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören auch die christlich-muslimischen Beziehungen.
Bild: ©KNA

Wessam A. Farag aus Alexandria, Ägypten, widmet sich Fragestellungen aus "Religion und Gesellschaft". In seiner Heimat lehrt Professor Farag Mittelalterliche Geschichte.

Frage: Auch wenn dabei ein demokratisch gewählter Präsident gestürzt wird?

Farag: Das ist nur die eine Seite der Medaille. Ja, der Präsident war demokratisch gewählt. Aber was sollen die Leute machen, wenn sie nach einem Jahr merken, dass er lügt, dass er seine Macht missbraucht? In demokratischen Staaten würde ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Denken Sie bloß an US-Präsident Richard Nixon, der mit seinem Rücktritt 1974 einem solchen Verfahren zuvorkam. Aber in unserem Land war das Parlament, also die Institution, die einen solchen Schritt im Auftrag des Volkes hätte durchführen können, bereits Monate vorher aufgelöst worden. Es blieb nur das Militär. Was aussah wie ein Staatsstreich, war in Wirklichkeit der Versuch, die Demokratie zu stärken.

Frage: Was, wenn dieser Versuch nichts fruchtet?

Farag: Wir haben einen Fahrplan. Wir werden Parlamentswahlen haben - aber wenn unser Plan in den kommenden 12 bis 18 Monaten nicht umgesetzt wird, werden die Leute wieder auf die Straße gehen. Denn wenn wir eins gelernt haben, dann dies: Wir haben keine Angst. Und wir machen keine Kompromisse mehr in Sachen Würde und Freiheit.

Frage: Ob das die Islamisten auch so sehen?

Farag: Wenn wir von den Islamisten in Ägypten sprechen, reden wir hauptsächlich von zwei Gruppierungen: den Muslimbrüdern, die auch hinter Präsident Mursi standen, und den Salafisten. Für die Muslimbrüder bedeutet Islam sowohl Religion als auch Macht. Ihr großer Traum ist die Errichtung eines Kalifats von Algerien bis Syrien. Nach Auffassung der Salafisten steht der Islam für die Religion an sich und einen vorgeschriebenen, strengen Lebenswandel. Die Muslimbrüder wollen die Gesellschaft von oben, die Salafisten von unten verändern. Deswegen arbeiten beide Strömungen immer wieder zusammen und verfügen über einen beträchtlichen Einfluss.

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Video: © Sarah Schortemeyer

Mina Wageh ist koptischer Christ und lebt seit 8 Jahren in Kairo. Katholisch.de hat ihn beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro getroffen und ihn zur Situation in seiner Heimat befragt.

Frage: Keine guten Aussichten für die Christen in Ägypten.

Farag: Die Christen wurden schon in den vergangenen vier Jahrzehnten immer weiter an den Rand gedrängt und mussten Diskriminierungen hinnehmen, was etwa die Aufnahme in den Staatsdienst anbelangte oder den Bau und Unterhalt von Gebetsstätten. Zugleich waren sie Partner der jungen Revolutionäre; sie gingen mit ihnen auf die Straße am 25. Januar 2011. Kreuz und Halbmond waren beide sichtbar auf dem Tahrir-Platz. Aber seitdem Mohammed Mursi und die Muslimbrüder an die Macht kamen, hat sich ihr Status noch einmal dramatisch verschlechtert. Viele Christen haben aus Angst vor Anschlägen ihre Heimat verlassen.

Frage: Sind die Unruhen also auch Ausdruck eines religiösen Konflikts?

Farag: Religion spielt zweifellos eine wichtige Rolle. Aber historisch gesehen lief das immer nach folgendem Muster ab: Wenn Ägypten wirtschaftlich am Boden lag, dann griff der Mob auf den Straßen den "Anderen" an. Das konnten ganz unterschiedliche Gruppen sein. Im Mittelalter waren das meist jene Menschen, die nicht den gleichen Glauben hatten. Später attackierte man Vertreter der Regierung. Aktuell richten sich vor allem die Salafisten gegen die Kopten in Ägypten, weil sie deren Glauben und Bräuche für unvereinbar mit der Mehrheitsgesellschaft halten.

Frage: Sie sind Experte für das Mittelalter und den christlich-muslimischen Dialog. Gibt es irgendeine Lehre, die sich aus der Vergangenheit für die Bewältigung der heutigen Situation ziehen lässt?

Farag: Vielleicht, dass schon zu früheren Zeiten Ignoranz und Intoleranz zu Gewalt geführt haben. Dagegen müssen gerade wir Intellektuelle vorgehen, indem wir etwa Grundlagen für eine Reform des Bildungswesens erarbeiten. Ägypten gehörte zu den ersten Ländern der Welt, die eine Schriftkultur hervorbrachten. Es stimmt mich traurig, wenn ein solches Land hinnimmt, dass heutzutage 37 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind. Nur wer lesen und schreiben kann, kann sich ein Bild machen: von sich selbst und den anderen.

Frage: Wird das ausreichen, um die Brüche der jüngsten Zeit zu kitten?

Farag: Der Schlüssel zu allem heißt Versöhnung - so wie Nelson Mandela das in Südafrika vorgemacht hat. Eine der wichtigsten Botschaften des Christentums ist die Fähigkeit zur Vergebung. Können wir Ägypter denen vergeben, die uns verletzt und unser Vertrauen missbraucht haben? Und lernen wir, uns - auch im Bereich der Religion - gegenseitig so zu akzeptieren, wie wir sind? Das ist die eigentliche Frage.

Von Joachim Heinz (KNA)