Staatskirchenrechtler Heinig: EuGH "religionskulturell unterbelichtet"

Kann ein Konkordat die Religionsfreiheit in der EU stärken?

Veröffentlicht am 24.06.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Die Richter am Europäischen Gerichtshof kennen sich mit Wirtschaft und Warenverkehr aus – aber was Religionen angeht, fehlt ihnen Feingefühl, sagt der Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig – obwohl die EU die Religionsfreiheit achten will. Gibt es eine Lösung dafür?

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Die Religionsfreiheit und das Selbstorganisationsrecht der Kirchen wird in Deutschland traditionell sehr hoch gehalten.Der Europäische Gerichtshof (EuGH) achtet in seinen Entscheidungen die Religionsfreiheit aber eher gering – obwohl der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eigentlich vorsieht, dass die Traditionen der Religionspolitik in den Mitgliedsstaaten gewahrt bleiben. Könnte das deutsche Bundesverfassungsgericht das zum Anlass nehmen, um ein zweites Mal Kompetenzverletzungen auf europäischer Ebene zu rügen? Und gibt es Auswege? Der Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig erklärt, warum der EuGH so wenig von Religion versteht – und wie es nun weitergehen könnte.

Frage: Professor Heinig, sie haben dem EuGH attestiert, dass ihm "mit Blick auf Religionspolitik rechtsdogmatisches Feingefühl fehlt". Was meinen Sie damit?

Heinig: Der Europäische Gerichtshof hat viel Erfahrung mit ökonomischen Fragen, Warenverkehrsfreiheit und Beihilferecht. Da gibt es auch eine große Rechtsprechungstradition. In kulturell und historisch imprägnierten Bereichen aber fehlt diese Erfahrung. Das merkt man der Rechtsprechung auch an. Sie ist religionskulturell unterbelichtet. Es gibt einen "Bias", wie man so schön sagt, also so eine untergründige Tendenz im Zweifel eher eine integrationspolitische Agenda zu verfolgen oder wirtschaftliche Rechte höher zu gewichten als kulturelle und religiöse Freiheitsrechte. Das hat mit den Entstehungsbedingungen, mit der DNA des Europäischen Gerichtshofs zu tun. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte übrigens eine gewisse Zeit Probleme im Umgang mit so schwierigen Materien . Er hat dann aber eine längere Lerngeschichte durchgemacht hat und zeigt inzwischen in seiner Rechtsprechung, wie Freiheitssinn und Sinn für europäische Vielfalt zusammenfinden können.

Porträtfoto Hans Michael Heinig
Bild: ©Universität Göttingen (Archivbild)

Hans Michael Heinig (Jahrgang 1971) ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland

Frage: Eigentlich sieht der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in seinem Artikel 17 vor, dass die Rechtsposition der Religionsgemeinschaften respektiert werden. Warum funktioniert das oft so schlecht?

Heinig: Man muss dabei unterscheiden. Im politischen Tagesgeschäft in der Rechtssetzung in Brüssel oder Straßburg funktioniert das gar nicht so schlecht. Man kann das etwa ablesen an der Datenschutzgrundverordnung, wo unter Verweis auf Artikel 17 AEUV bestimmte organisatorische Freiheitsräume für Religionsgemeinschaften Bestand haben konnten. Und im Bereich des Datenschutzes bewegen wir uns sogar in einer Materie, die eigentlich gar nicht so religiös oder theologisch bedeutsam ist. Artikel 17 AEUV soll der Vielschichtigkeit und den unterschiedlichen Traditionen, die wir in Europa an der Stelle aufweisen, Achtung erweisen: Die europäischen Institutionen sollen Rücksicht an den Tag legen, wenn es um das Recht der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten geht. Im politischen Tagesgeschäft wird man damit gehört. Beim EuGH hingegen bleibt davon nichts übrig. In thematisch einschlägigen Fällen, die er entscheidet, misst er Artikel 17 keine nennenswerte Bedeutung zu. Er entfaltet ihn argumentativ überhaupt nicht. Das ist schon bemerkenswert: Eine Norm, die Mitgliedstaaten bewusst einführen, um sich Kompetenzen vorzubehalten, wird einfach ignoriert.

Frage: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank dem EuGH erstmals deutlich widersprochen: Der EuGH habe "ultra vires" gehandelt, also seinen Kompetenzbereich überschritten. Könnte das kirchliche Arbeitsrecht das nächste Gebiet sein, bei dem es zwischen den Gerichten zum Konflikt kommt? Etwa im Fall Egenberger, der häufig genannt wird: Eine konfessionslose Bewerberin wurde bei der Diakonie abgelehnt, sie klagte wegen Diskriminierung aufgrund ihrer fehlenden Kirchenzugehörigkeit.

Heinig: Als in diesem Fall Verfassungsbeschwerde eingelegt wurde, dachte man, das könnte der Leitfall für eine “ultra vires”-Entscheidung schlechthin sein. Im Rückblick wäre der Fall auch besser geeignet gewesen. Wie das Bundesverfassungsgericht sich aber jetzt in der Sache verhalten wird, bleibt abzuwarten. Die Besetzung des zuständigen Zweiten Senats hat sich verändert. Vielleicht sieht er nach den europaweiten heftigen Reaktionen auf die EZB-Entscheidung auch gute Gründe, das Verhältnis zum EuGH nicht maximal eskalieren zu lassen. Damit stellt sich die Frage, wie man beim EuGH eine Lernerfahrung stimuliert. Das Konfliktpotential in der Egenberger-Sache ist aber nach wie vor da. Der Ball liegt auch beim EuGH. In der momentanen Situation deeskalierend zu wirken und Signale zu senden, dass man verstanden hat, ist nicht einseitig eine Bringschuld des Bundesverfassungsgerichts.

Eine Sitzung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs.
Bild: ©Gerichtshof der Europäischen Union (Archivbild)

Eine Sitzung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs. Jeder Mitgliedsstaat der EU entsendet einen Richter an den EuGH. Er tagt als Plenum mit 27 Richtern, als Große Kammer mit 15 Richtern oder in Kammern mit drei oder fünf Richtern.

Frage: Was könnte das Bundesverfassungsgericht stattdessen tun?

Da stehen verschiedene Optionen offen: Das Bundesverfassungsgericht könnte noch einmal Fragen beim EuGH vorlegen und so den Dialog der Gerichte weiterpflegen. Dabei könnte es deutlich machen, dass es den Umgang des EuGH mit Artikel 17 AEUV nicht für in Ordnung hält und man eine weitere “ultra vires”-Konstellation am Horizont sieht. Eine weitere Möglichkeit wäre es, zähneknirschend die Grundentscheidung des EuGH zu akzeptieren, aber sich noch mal sehr kritisch anzusehen, wie das Bundesarbeitsgericht eigentlich mit den Vorgaben aus Brüssel umgegangen ist. Im Fall Egenberger ist nicht nur der EuGH betroffen, sondern auch das Bundesarbeitsgericht, das die Vorgaben des EuGH bemerkenswert religionsfreiheitsfeindlich angewendet hat. Die EuGH-Vorgaben in der Rechtssache Egenberger beließen einen kleinen Spielraum, und dieser Spielraum wurde vom Bundesarbeitsgericht nicht grundgesetzschonend genutzt, sondern eher in dem Sinne, dass man mit dem kirchlichen Arbeitsrecht und seinem verfassungsrechtlichen Schutz ganz grundlegend aufgeräumt hat. Das stellt neue verfassungsrechtliche Anfragen auch an die Spruchpraxis des Bundesarbeitsgerichts.

Frage: Wie entstehen solche Rechtsmentalitäten? Man hat nicht nur hier den Eindruck, dass das Bundesarbeitsgericht das Selbstorganisationsrecht der Kirche nicht so hoch bewertet wie das Bundesverfassungsgericht.

Heinig: Schon beim Bundesarbeitsgericht kann man unterschiedliche Akzentsetzungen in den unterschiedlichen Spruchkörpern feststellen, nicht jeder Senat ist gleich. Die Entscheidung etwa zum Streikrecht in der Kirche 2012 hat eine sehr gute Balance zwischen den involvierten Rechtsgütern gefunden. Ansonsten gilt dasselbe wie beim EuGH: Es ist ein Unterschied, ob es sich um ein Spezialgericht für Grundrechtsfragen handelt, oder ob solche Verfassungsfragen von der allgemeinen Fachgerichtsbarkeit mit ihrem jeweiligen „Tunnelblick“ behandelt werden. Es ist kein Wunder, dass der EuGH eher einen wirtschafts- und unternehmensbezogene “Bias” in einigen Fragen hat, weil das mit der großen Bedeutung des Binnenmarkts einhergeht. Das Bundesarbeitsgericht hat es in der Vergangenheit manchmal nicht so gut hinbekommen, die Balance zwischen Arbeitnehmerrechten und kirchlichen oder religiösen Freiheitsrechten zu finden, weil sie von ihrer Materie her eben stärker mit der Arbeitnehmerperspektive vertraut sind. Natürlich hat das auch immer mit den Richterpersönlichkeiten zu tun und mit deren hermeneutischem Vorverständnis, aber es liegt auch an dieser institutionellen Fachprägung. Deshalb wirft so eine ausgelagerte Verfassungsgerichtsbarkeit zwar eigene Probleme auf, sie bietet aber eben auch immer eine große Chance, weil sie multipolare Konfliktkonstellationen, also bei denen mehrere Perspektiven und mehrere Institutionen involviert sind, ausgewogen in den Blick nehmen kann. In der Regel finden Verfassungsgerichte eine bessere Balance als die für ein Teilrechtsgebiet zuständige Fachgerichtsbarkeit.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
Bild: ©Klaus Eppele/Fotolia.com (Archivbild)

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gewährt den Religionsgemeinschaften traditionell eine sehr starke Stellung, was ihre Selbstorganisation angeht. Immer wieder korrigiert es deshalb deutsche Gerichte. Könnte es bald auch dem EuGH widersprechen?

Frage: Das Selbstorganisationsrecht der Kirchen muss man nicht zwingend so streng hochhalten, wie es das Bundesverfassungsgericht traditionell gemacht hat. Könnte es hier auch zu Veränderungen kommen, weil neuere Richter säkularer und weniger kirchlich geprägt sind als frühere Berufungen?

Heinig: Es ist jedenfalls kein Automatismus, dass eine säkularer werdende Gesellschaft, was immer der vielschichtige Begriff „säkularer“ auch heißt, automatisch weniger religiöse Freiheitsräume bieten wird. Der Sinn für das Besondere des Religiösen geht vielleicht ein Stück weit zurück, aber auch Menschen mit einer säkularen Option können gute Gründe dafür entdecken, religiöse Freiheiten zu gewährleisten, und das nicht nur auf einer Minimalbasis. Wenn ein Spruchkörper zukünftig mit mehr Menschen mit säkularer statt mit religiöser Lebensführungsoption besetzt ist, leiden deshalb nicht von vornherein religiöse Freiheiten. Dazu kommt, dass Rechtsprechung stark von Pfadabhängigkeiten lebt: Eine Gerichtsentscheidung baut auf vorhergehenden Gerichtsentscheidungen auf und aus diesen Pfaden ganz auszubrechen verursacht hohe Kosten. Ein Ziel des Rechtsstaates ist es, Rechtssicherheit zu gewährleisten, hohe Erwartungssicherheit zu gewährleisten, so dass gerade das Bundesverfassungsgericht abrupte Wechsel in der großen Rechtsprechungslinie eher meidet. Üblicher ist es, kleinere Veränderungen von Fall zu Fall vorzunehmen, jeweils in Anbetracht der besonderen Umstände des Einzelfalls und der gesellschaftlichen Großwetterlage. Einen solchen eher inkrementelle Prozess erwarte ich auch für Fragen des religiösen Organisationsrechts.

Frage: Die gesellschaftliche Großwetterlage scheint nicht besonders wohlwollend für das kirchliche Arbeitsrecht zu sein. Könnte hier doch demnächst eine Änderung der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts am Horizont stehen?

Heinig: Die jüngsten Entscheidungen zum kirchlichen Arbeitsrecht zeigen, dass es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine hohe Sensibilität dafür gibt, dass kirchliches Arbeitsrecht immer die komplexe theologische Fragestellung mitverhandelt, was die Kirche zur Kirche macht. Dafür hat das Bundesverfassungsgericht stets einen Sensus gehabt, anders als der EuGH, dem diese Sinndimension völlig abgeht. Ich erwarte jetzt nicht, dass dieser Sinn für das Freiheitliche, der auch die Säkularität der Rechtsordnung schützt, demnächst abhanden kommt. Theologische Fragen lässt das Bundesverfassungsgericht theologische Fragen sein und delegiert sie an die dafür Zuständigen, nämlich an die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Daran wird das Bundesverfassungsgericht meines Erachtens nicht rühren. Wahrscheinlicher sind punktuelle Verschiebungen beim Ausgleich mit kollidierenden Rechtsgütern wie dem Schutz der Familie oder Persönlichkeitsrechten.

Frage: Aber natürlich wird viel über Europa gespielt, auch vom Bundesarbeitsgericht. Was für Strategien gäbe es denn sowohl für das Bundesverfassungsgericht als auch für die Kirchen, um für mehr Verständnis für diese von Ihnen skizzierte theologische Zurückhaltung zu werben?

Heinig: Gegenüber dem EuGH muss man alle Kommunikationsmöglichkeiten nutzen. Das können informelle Gespräche sein, Richteräußerungen, auch parlamentarische Willensäußerungen. Europa ist eine Verhandlungsdemokratie. Die Europäische Union begreift sich als Rechtsgemeinschaft, zugleich ist das Recht aber viel fluider, als wir das aus unserer deutschen Traditionen heraus begreifen, deshalb muss auch über das Recht ständig neu verhandelt werden. Nicht über alle Quisquilien des kirchlichen Arbeitsrechts, aber über die Grundlinien, die Philosophie, die dahinter steht. Dafür kann man werben.

Flaggen von Mitgliedsländern der Europäischen Union.
Bild: ©neirfy/Fotolia.com (Symbolbild)

"Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht" lautet Artikel 17 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Frage: Bringt denn Kommunikation etwas, wenn nicht einmal der Wortlaut der Verträge etwas bewirkt hat?

Heinig: Es hat schon eine dramatische Dimension, wenn die Mitgliedstaaten die Verträge ändern und in das Primärrecht eine Norm aufnehmen, um Rechtsprechung zu prägen und diese Prägung dann einfach ausfällt. Das erzeugt schon ein Gefühl der Ohnmacht und schadet der Akzeptanz der europäischen Integration gewaltig. Das einzige, worüber man nachdenken kann, ist jenseits der Verträge ein Konkordat oder einen Staatskirchenvertrag auf EU-Ebene.

Frage: Konkordate auf nationaler Ebene gibt es bereits. Ist dadurch die katholische Kirche in der Rechtsprechung bisher besser gefahren als andere Religionsgemeinschaften ohne Staatskirchenverträge?

Heinig: Nein. Es gab einen Fall in Spanien, in dessen Fallkonstellation der EuGH auch mit konkordatsrechtlichen Aspekten zu tun hatte. Die haben aber letztlich für das Gericht keine Rolle gespielt. Deshalb ist mein Vorschlag, über ein EU-Konkordat nachzudenken, sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es wäre immerhin ein Unterschied, einen Staatskirchenvertrag direkt auf EU-Ebene abzuschließen statt nur in den Mitgliedsstaaten.

Frage: Gibt es konkrete Bestrebungen, einen Vertrag zwischen der EU und dem Vatikan zu schließen?

Heinig: Mir sind keine bekannt. Ich sehe auch keine realistische Aussicht auf den Abschluss eines solchen Vertrags.

Frage: Was könnte ein solches Konkordats regeln?

Heinig: Den Umgang mit beihilferechtlichen und mit diskriminierungsrechtlichen Fragen etwa. Bisher gibt es zwar schon eine Berücksichtigungsklausel für die Religionsfreiheit in der Antidiskriminierungsrichtlinie, die ist aber sehr schlecht formuliert. Die kann man dreißigmal lesen und weiß immer noch nicht so genau, was damit gemeint ist. Und natürlich sollte ein Konkordat Artikel 17 und damit die religionsrechtliche Vielgestaltigkeit und Freiheit in der EU bekräftigen.

Von Felix Neumann