Klaus Mertes: Jesuit, Pädagoge, Vorreiter bei Missbrauchs-Aufarbeitung
"Die Schulen sollten trotz Corona-Krise jetzt sofort wieder vollständig öffnen", fordert Klaus Mertes. Denn Kinder und Jugendliche brauchten Schule als Ort gemeinsamen Lebens und sozialer Nähe. Im Blick auf wachsende Gewalt gegen Kinder sogar als "Schutzraum" – davon ist der Pädagoge und scheidende Leiter der renommierten Jesuiten-Schule Kolleg Sankt Blasien überzeugt. Und deshalb dürfe das Wohl von Kindern und Jugendlichen nicht prinzipiell hinter die Sorge vor möglichen Corona-Infektionsrisiken für Lehrkräfte zurücktreten.
Dass seine klaren Worte nicht bei allen Lehrerkollegen auf ungeteilte Sympathie treffen, ist Mertes bewusst. Doch das hindert den Jesuiten nicht daran, meinungsstark Position zu beziehen, um Debatten und Veränderungen anzustoßen. Und dabei auch persönliche Anfeindungen in Kauf zu nehmen. Das gilt in Corona-Fragen wie bei der Aufdeckung und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bereich der katholischen Kirche, die Mertes in den vergangenen Jahren entscheidend voranbrachte.
Künftig als Seelsorger tätig
Zum Schuljahresende wird der 65-Jährige nun das Kolleg Sankt Blasien verlassen. "Der Abschied war seit langem so vereinbart. Ich freue mich auf einige Sabbatwochen zum Innehalten und Reflektieren. Danach möchte ich als Seelsorger arbeiten: predigen, Exerzitien geben, Sakramente spenden. Wegen Corona ist noch nicht genau klar, wann und wo", sagt Mertes. Als Autor der Zeitschrift "Stimmen der Zeit" wird er weiter tätig bleiben.
Als Lehrer Kinder und Jugendliche zu bilden und bei der Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten – das versteht der Pädagoge als seine Berufung. "Schule ist der Ort, in dem Kinder lernen können, sich die lebensentscheidenden Fragen zu stellen, nach Sinn, nach Gerechtigkeit, nach Gott." Lehrer zu sein, beschreibt er als "wunderschönen, aber zugleich existenziell ernsten Beruf".
Öffentlich bekannt ist Mertes vor allem für seine Rolle bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. 2010 machte er als damaliger Leiter des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich, dass jesuitische Lehrer über Jahre Schüler missbraucht hatten. Er stieß damit eine bundesweite Aufarbeitung an – auch gegen zunächst erhebliche innerkirchliche Widerstände. Inzwischen hat eine im Auftrag der Bischofskonferenz erarbeitete Untersuchung das Ausmaß von Leid und Missbrauch deutlich gemacht. In den kirchlichen Akten der Jahre 1946 bis 2014 fanden Experten Hinweise auf bundesweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe und auf rund 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute.
Eine Engführung auf Entschädigungen und Schmerzensgelder sieht er kritisch: "Selbstverständlich muss Kirche Schmerzensgelder zahlen. Aber Geld schafft keinen Frieden. Entscheidend ist es, den Opfern zuzuhören und ihnen zu glauben." Bei der Vorbeugung gegen Missbrauch sieht Mertes Kirche, Schulen und Gemeinden inzwischen gut aufgestellt. Weniger überzeugt ist er, dass es auf breiter Basis gelungen sei, die tieferliegenden, spezifisch kirchlichen Ursachen für Missbrauch aufzuarbeiten – "etwa wenn es um Klerikalismus oder Sprechverbote geht". Auch was die Unabhängigkeit der Aufarbeitung angeht, sieht er noch Luft nach oben.
"Wenn es die Sache erfordert, werde ich mich weiter öffentlich zu Wort melden"
Vielleicht hat Mertes auch deshalb keine große Kirchenkarriere gemacht, weil er immer wieder unbequeme Fragen stellt: "Wer glaubt, die Folgen von Missbrauch schon verstanden zu haben, kann sich dem Leid der Betroffenen nicht wirklich nähern. Begreifen beginnt mit dem Nicht-Verstehen." Als echte Anerkennung empfand Mertes die Verleihung der Ehrendoktorwürde der katholischen Theologischen Fakultät der Universität Freiburg vor einem Jahr. Laudator Magnus Striet begründete die Auszeichnung damit, das Mertes durch konkretes Handeln und durch theologische Reflexion entscheidend dazu beigetragen habe, die kirchliche Schweigespirale zu durchbrechen.
Nach seinem Abschied aus dem Südschwarzwald will Mertes als "normaler Seelsorger predigen, begleiten, trauen und beerdigen". Und schiebt dann doch noch nach: "Wenn es die Sache erfordert, werde ich mich weiter öffentlich zu Wort melden."