Zankapfel der tschechischen Erinnerungskultur: Die Prager Mariensäule
Wie andernorts auf der Welt sorgt auch in der tschechischen Hauptstadt Prag momentan eine Statue für hitzige Debatten. Beinahe wäre sie sogar Opfer eines Brandanschlages geworden, hätten Einsatzkräfte nicht frühzeitig eingegriffen und ein Übergreifen der Flammen verhindert. Doch der Zorn, den manche gegen dieses Kunstwerk richten, hat nichts mit der "Black Lives Matter"-Bewegung zu tun: Zankapfel ist die etwa 15 Meter hohe Mariensäule auf dem Altstädter Ring, die Anfang Juni nach rund viermonatiger Bauzeit wiedererrichtet worden ist – 102 Jahre nach ihrer Zerstörung.
Die Rekonstruktion der Mariensäule ist ein brisantes Politikum, das die Tschechen bereits seit Jahrzehnten spaltet – und das in einem Land, das im europäischen Vergleich zu den Staaten mit dem höchsten Anteil an Konfessionslosen gehört. Warum sorgt in einer Gesellschaft, die nach den Worten des bekannten tschechischen Religionssoziologen und Priesters Tomáš Halík zu großen Teilen von "religiöser Apathie" oder sogar "religiösem Analphabetismus" geprägt ist, ausgerechnet eine einfache Marienstatue für Kontroversen? Bei dem Streit um die Figur geht es nicht allein um ihre religiöse Bedeutung, sondern vielmehr um die Frage der Bewältigung eines schwierigen Kapitels der tschechischen Geschichte.
Zeichen des Danks für die Rettung der Stadt
Die Geschichte der Prager Mariensäule beginnt am Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Der römisch-deutsche Kaiser Ferdinand III. aus dem Hause Habsburg, gleichzeitig König von Böhmen, ließ sie 1650 auf dem Altstädter Ring aus Dank für die Errettung Prags vor den protestantischen schwedischen Truppen errichten. Ihr Schöpfer war Johann Georg Bendl, zu jener Zeit einer der bekanntesten Barockbildhauer Böhmens.
Um die Symbolkraft eines solchen Bauwerks an genau dieser Stätte zu verstehen, muss man jedoch weiter zurückgehen, genauer gesagt an den Anfang des 15. Jahrhunderts. Damals bildete sich um den Prager Theologen Jan Hus eine kirchliche Reformbewegung in Böhmen. Hus' Lehre und seine Kritik an der Kirche führten dazu, dass sich das Konzil von Konstanz (1414–1418) mit ihm beschäftigte: 1415 wurde er zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
Hus' Tod löste eine lange Folge kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhängern und der kaiserlichen Macht aus. Daneben verbreitete sich seine Lehre bis in die Spitzen der damaligen böhmischen Gesellschaft. 1619 erhoben sich die protestantischen Stände Böhmens schließlich gegen die katholischen Habsburger, die seit 1526 auch die Könige Böhmens waren. Deren Truppen schlugen den Aufstand 1620 in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag nieder. Die Habsburger unterdrückten daraufhin rigoros jeglichen weiteren Widerstand in der Bevölkerung und versuchten, Böhmen radikal zu rekatholisieren. Zum Zeichen dafür wurden die Anführer des Aufstands auf dem Altstädter Ring hingerichtet.
So wurde der Katholizismus für national gesinnte Kreise in Böhmen zunehmend zu einem Synonym der Fremdbestimmung durch die Habsburger. Die Mariensäule, die das Herrscherhaus ausgerechnet am Todesort der Anführer der protestantischen Rebellion sozusagen als "Siegeszeichen" gegen den Protestantismus errichten ließ, wurde für sie zum Stein gewordenen Symbol dafür.
Kein Platz mehr für das Symbol der "Fremdherrschaft"
Die Herrschaft der Habsburger über Böhmen endete 1918 parallel mit dem Ersten Weltkrieg. Neben der Parole "Los von Wien!" hieß es auch "Los von Rom!", sprich von der katholischen Kirche. Am 3. November, fünf Tage, nachdem sich die Tschechoslowakei von Österreich losgesagt hatte, wurde die Mariensäule von etwa 100 Personen unter der Führung des Prager Anarchisten František Sauer geschleift. Später machte sich die Menge auch noch zur nahegelegenen Karlsbrücke auf, wo sie die barocken Heiligenfiguren in die Moldau werfen wollte. Dies konnte jedoch durch Polizeikräfte verhindert werden. Nur wenige Tage später wurde Sauer wegen Sachbeschädigung angeklagt, das Verfahren wurde jedoch bald eingestellt.
Die Erste Tschechoslowakische Republik (1918-38) war in der Folge von einem eher kühlen Verhältnis zwischen Staat und katholischer Kirche geprägt. Im kommunistischen Totalitarismus ab 1948 wurde die Kirche vollends an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Doch die Erinnerung an die Mariensäule überdauerte diese Phase: Schon bald nach der Samtenen Revolution von 1989 sprachen sich Bürgerinitiativen für ihre Wiedererrichtung auf dem Altstädter Ring in Prag aus und starteten entsprechende Petitionen. 1990 wurde die "Gesellschaft für die Wiedererrichtung der Mariensäule" gegründet. 1993, zum 75. Jahrestag des Sturzes der Säule, ließ sie auf dem Pflaster des Altstädter Rings eine Platte mit der Inschrift "Hier stand die Mariensäule und sie wird hier wieder stehen" anbringen. Der Prager Magistrat ließ den zweiten Satzabschnitt tilgen.
Erwartungsgemäß stießen die Befürworter auch in der Öffentlichkeit auf Widerstand. Gegner sprachen von einem Sinnbild eines "gegenreformatorischen Totalitarismus" und brachten immer wieder ein Argument gegen die Wiederrichtung ins Spiel: die 1915, ebenfalls nach jahrzehntelelangen Debatten eingeweihte Statue von Jan Hus, die gerade einmal 30 Meter von der alten Mariensäule entfernt stand. Schließlich könne die Erinnerung an den tschechischen Nationalhelden nicht direkt neben einem Unterdrückungssymbol existieren. Befürworter hingegen vertraten die Sichtweise, dass eine Nachbarschaft von Hus-Staue und Mariensäule den Dualismus von katholischen und reformatorischen Einflüssen sowie das Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen, die Böhmen seit jeher prägten, versinnbildlichen würde.
Jahrelang hatte eine Wiedererrichtung der Mariensäule im Prager Stadtrat keine Chance. Umso größer war die Überraschung, als sich dort im Januar dieses Jahres doch eine Mehrheit für die Wiedererrichtung fand. Stadträte verschiedener Fraktionen, aus der Regierungskoalition wie auch aus der Opposition, stimmten mit 36 Ja-Stimmen (von insgesamt 65 Ratsmitgliedern) für die Erteilung der Baugenehmigung. Nicht nur extremistische Kreise wie die Kommunisten – im Prager Stadtrat sind sie nicht vertreten –, sondern auch Oberbürgermeister Zdeněk Hřib von der liberalen Piratenpartei konnte der Entscheidung nichts abgewinnen: Er äußerte Unverständnis dafür, im Jahr 2020 religiöse Symbole in der Öffentlichkeit aufzustellen.
Statue als "Schlüssel zur böhmischen Barockkunst"
Der Prager Erzbischof, Kardinal Dominik Duka, ist wenig überraschend anderer Ansicht: Die Mariensäule werde als Symbol von Versöhnung und ökumenischer Zusammenarbeit wiedererrichtet, argumentierte er via Twitter. Für den Bildhauer Petr Váňa wiederum, der die Mariensäule rekonstruierte und damit schon in den 1990er Jahren begonnen hatte, ist sie schlicht und ergreifend "eine wunderschöne Statue", die den "Schlüssel zur böhmischen Barockkunst" darstelle.
Somit bleibt es weiter umstritten, ob es sich bei der Prager Mariensäule um ein religiöses Bauwerk, ein kulturelles Symbol, ein historisches Denkmal oder einfach nur um schöne Kunst handelt – und somit, welchen Zweck ihr Wiederaufbau erfüllt. Sicher ist nur, dass der Protest weitergehen wird. Eines zeigen die Diskussionen allerdings auf: eine gewisse Ratlosigkeit der tschechischen Gesellschaft hinsichtlich ihrer Haltung zur Religion und ihrer Sichtweise auf die eigene Geschichte.