Käßmann: Corona-Krise zeigt, dass wir etwas verändern können
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Die aktuellen Kirchenaustrittszahlen waren für die katholische und die evangelische Kirche ein Schock. Im Interview sagt Margot Käßmann, warum es ein ökumenisches Vorgehen gegen das Problem braucht und erklärt ebenfalls, warum neben allen Schwierigkeiten auch viel Gutes in der Corona-Pandemie entstanden ist.
Frage: Frau Käßmann, was bringt Ihnen Hoffnung in diesen komplizierten Zeiten?
Käßmann: Hoffnung schöpfe ich erstmal schon aus unserem christlichen Glauben. Ich fand die ganze Corona-Zeit, diesen Satz aus dem zweiten Timotheus-Brief so gut: "Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit." Und das hat sich doch an vielen Punkten auch gezeigt. Das schenkt mir Hoffnung, dass Menschen nicht nur gehamstert haben, sondern auch aufeinander geachtet haben. Dass viele eine neue Dankbarkeit entwickelt haben, dass wir in diesem Land leben dürfen, so geschützt im Verhältnis zu anderen Ländern, dass es auch Nachbarschaftshilfe gab, dass auf einmal Aufmerksamkeit auf Menschen gerichtet wird, die "systemrelevant" sind, die aber sonst wenig beachtet werden in unserem Land. Es ist neben allen Schwierigkeiten auch viel Gutes entstanden.
Frage: Die Schlagzeilen sehen aber anders aus. Corona, Rassengewalt, Kirchenaustritte, Fleischskandal – fällt es da nicht schwierig, trotzdem sich die Hoffnung zu behalten?
Käßmann: Das muss ich sagen, geht mir manchmal auch so, dass ich denke, das ist alles so schwierig. Wo wollen wir denn überhaupt anfangen? Und andererseits: Ohne Hoffnung und ohne Zuversicht kann der Mensch nicht leben. Und wir können ja was verändern. Wir haben wir auf einmal gesehen: ich hab mir das nicht vorstellen können, dass der gesamte Flugverkehr eingestellt wird. In der Klimafrage war das immer mal eine Debatte. Können wir weniger fliegen? Ach, schau her, wir können sogar gar nicht fliegen, und die Welt dreht sich weiter.
Ich denke, dass es auch gut ist, dass dieser Fleischskandal jetzt in dieser Corona-Zeit auf einmal aufgedeckt wurde. Gewusst haben das alle ja lange. Das ist ja nicht so, dass wir nicht davon gewusst haben. Erstens, wie schrecklich die Tierhaltung ist und dass die Menschen, die aus Rumänien bei uns arbeiten, nicht gut untergebracht sind. Insofern könnten wir es auch positiv sehen und sagen: Das kommt jetzt endlich mal auf den Tisch, und es muss etwas getan werden. Es sieht ja auch so aus, als werden Gesetze auf den Weg gebracht.
Gleichzeitig sehen wir, dass beispielsweise Menschen gar nicht in den Urlaub auf die Malediven fahren müssen, sondern in Deutschland, in der Eifel oder an der Ostsee Urlaub machen können. Also, ich möchte in all dem auch immer mal den positiven Aspekt sehen.
Frage: Wie schafft man das bei Kirchenaustritten und Missbrauchsskandal?
Käßmann: Das bedrückt mich natürlich, dass Menschen scharenweise zu Zigtausenden die Kirchen verlassen. Für mich ist eine Konsequenz aber nochmal deutlicher zu sagen: Es ist wichtig, dass Du Mitglied bist! Unsere Kirchen bedeuten uns doch auch etwas. Ich möchte in diesem Land ja auch leben, weil es geprägt ist von solchen Gedanken wie Barmherzigkeit, von christlichem Grunddenken, dass sich in unserem Rechtssystem ja auch niederschlägt, und im Sozialsystem – und den Menschen nochmal klarzumachen, was für ein Verlust es ist, wenn die Kirchen in unserem Land keine Stimme mehr sind, wenn es diese Räume nicht mehr gibt und dass wir vielleicht bewusster auch noch sagen: Toll, dass du Mitglied bist! Vielleicht haben die Kirchen das auch zu sehr vernachlässigt.
Der evangelische Gottesdienst: Zwischen Predigt und Abendmahl
Während katholische Messen fast immer gleich ablaufen, herrscht im Protestantismus eine größere Vielfalt: Unterschiedliche Traditionen haben dem evangelischen Gottesdienst ihren Stempel aufgedrückt – und es gibt sogar einen Trend, katholischer zu werden.Frage: Das haben Sie auch am Wochenende in der Bild am Sonntag in Ihrer Kolumne geschrieben. Muss man es auf der anderen Seite nicht auch anerkennen, dass 540.000 Deutsche letztes Jahr gesagt haben: Da passiert so viel Schlechtes. Ich kann das nicht mehr tragen?
Käßmann: Natürlich kann ich das völlig respektieren. Und wenn Sie jetzt auf die Missbrauchsfälle ansprechen, muss ich sagen: Das ist für mich auch weiterhin unfassbar und auch ein Verspielen von Vertrauen einer pfarramtlichen Person, sage ich mal so weitgreifend, der haben die Menschen ja auch vertraut. Und wenn Vertrauen so missbraucht wird auf diese grauenvolle Weise, dann erschüttert das natürlich das Vertrauen in das gesamte System.
Deshalb müssen wir darüber auch öffentlich und sehr klar und sehr konsequent sprechen, was da passiert ist. Ich finde, Straftaten müssen sofort bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werden. Das ist nichts, was irgendwie innerkirchlich zu regeln wäre.
Frage: Können wir die Kirchen noch retten? Die Zahlen gehen ja von Jahr auf Jahr nach oben?
Käßmann: Ich bin überzeugt, dass die Kirche auch existent ist, wenn sie kleiner ist. Was ich versucht habe zu sagen ist: Die Kirche ist auch nicht nur eine Dienstleistung. Christentum ist eben auch ein Leben in Gemeinschaft. Das sehen viele nicht. Und wenn es heißt, ich kann auch bald ganz alleine singen "Großer Gott, wir loben dich", dann sage ich immer: Das heißt aber Großer Gott, "wir" loben dich. In der Bibel ist es doch von Anfang an so, dass das Markenzeichen von Jesus geradezu ist, dass er sich mit Menschen an einen Tisch setzt, mit ihnen isst und trinkt, über Gott und die Welt redet. Und das gehört zum Christsein deshalb für mich auch dazu. In der evangelischen Kirche ist es ja nicht so, dass die Kirchen nun Heils-Mittlerin wäre. Der Christ kann nach Luthers Verständnis auch alleine mit Gott in Kontakt treten. Aber es ist trotzdem ein Leben in Gemeinschaft als Gemeinschaft. Gemeinsam singen, beten, hören und aufeinander achten, auch als soziale Herausforderung. Das gehört für mich zum Christsein dazu.
Frage: Ich bin mal ein bisschen politisch inkorrekt: Tut es Ihnen als evangelische Theologin weh, dass die Austrittszahlen bei Ihnen prozentual sogar noch höher liegen als bei der katholischen Kirche, obwohl die Skandale und Missbrauchsfälle ja eigentlich viel prominenter auf der katholischen Seite sind. Denkt man da auch manchmal so ein bisschen: Warum kriegen wir das ab?
Käßmann: Das war aber schon immer so, muss ich sagen. Ich habe schon als Pfarrerin mal einen Kirchenaustritt in meinem Dorf gehabt, da ist jemand wegen des Papstes aus der evangelischen Kirche ausgetreten – und ich konnte nicht klar machen, dass ich damit eigentlich nichts zu tun habe. Also: Ich denke, das wäre jetzt ein falscher Ansatz zu sagen: Warum treten da mehr aus, da weniger aus? Und die einen waschen sich die Hände und sagen: Guck mal, bei uns sind es weniger, bei denen sind es mehr. Das trifft uns alle zusammen.
Aus der evangelischen Kirche treten die Menschen ohnehin leichter aus, weil sie eben genau nicht dieses Kirchenverständnis haben, dass es außerhalb der Kirche, kein Heil gibt. Die Kirche ist für die Evangelischen ja ein Versammlungsort, ein Gemenschaftsort. Der Priester ist nicht notwendig oder der Pfarrer, die Pfarrerin sind nicht notwendig, um mit Gott in Kontakt zu treten. Das ist bei uns ja ein ganz anderes Verständnis von Kirche.
Frage: Auch da positiv gedacht: Müssen wir das Problem also gemeinsam, ökumenisch, angehen?
Käßmann: Ich denke schon, dass wir es gemeinsam angehen müssen, weil: Die Glaubwürdigkeit der einen Kirche und die Glaubwürdigkeit der anderen Kirche – das beeinflusst sich. Ich denke aber nicht, dass wir deshalb sagen müssen: Wir brauchen jetzt eine Einheitskirche, die alles einheitlich macht, sondern wir sind eine Gesellschaft, die eine Marktgesellschaft ist, sage ich jetzt mal im weitesten Sinne. Und da möchten die Leute wählen können. Und ich finde, dass Kirchen unterschiedlich sind, ist auch gut. Was sich nur gezeigt hat bei der evangelischen Kirchenmitgliedschaftuntersuchung, ist, dass die Menschen doch sehr stark sich binden über ihre Ortsgemeinde. Und das macht mir auch Hoffnung, weil ich sehe ja, es gibt ganz tolle Ortsgemeinden. Es gibt natürlich auch Gemeinden, die sind so groß geworden da passiert am Ort nicht mehr viel, weil es zu wenig Personal gibt. Aber ich sehe Gemeinden. Ich denke jetzt an eine Gemeinde, in der einer meiner Töchter mit drei Enkeln lebt. Die machen so viele großartige Sachen, auch für Kinder und Jugendliche. Da ist die Kirche sehr, sehr lebendig. Und ich denke, das ist vielleicht die Konsequenz, dass wir sagen: Stützen wir lebendige Ortsgemeinden. Da wachsen dann Menschen auf, die eine Bindung an die Kirche haben. Gerade Kinder und Jugendliche, die sagen: Das tat mir gut. Und da will ich auch weiter mich beheimaten und verorten mit meiner ganzen Lebenshaltung.
Frage: Wie können wir in der jetzigen Zeit Ökumene gut angehen?
Käßmann: Mir ist bei der Ökumene wichtig, dass wir einander als Kirchen anerkennen, dass wir deshalb auch, das tun wir ja in Deutschland fast alle inzwischen, die Taufe gegenseitig anerkennen. Und was meine Hoffnung ist, ist, dass wir zusammen Eucharistie bzw. Abendmahl feiern können, ganz frei, also ohne Vorgaben. Ich weiß, dass manche sagen: Das tun wir ja längst. Aber ich möchte das ganz frei und offen tun können, weil ich finde, das ist die Einladung von Jesus an diesen gemeinsamen Tisch. Und die sollten wir einander nicht verweigern.
Das wäre für mich das Ziel: Verschiedenheit, wie gesagt, finde ich gut. Wir reden ja auch in der Ökumene von versöhnter Verschiedenheit. Und das ist ja in den evangelischen Kirchengemeinden auch so. Die einen zeichnen sich, wie gesagt, durch diese tolle Kinder und Jugendarbeit aus, die anderen vielleicht durch eine hervorragende Kirchenmusik. Ich finde, wir sollten unsere Schwerpunkte setzen und einander das Christsein nicht absprechen. Das ist mir wichtig und dass wir in dieser Verschiedenheit auch an einander Interesse haben. Ich werde nicht römisch-katholisch werden. Aber ich respektiere natürlich Schwestern und Brüder der römisch katholischen Kirche und finde dann auch interessant, was unterschiedlich ist. Ich habe als lutherische Bischöfin in Basel mal einen Abendmahls-Gottesdienst gehalten, die lutherische Liturgie gesungen, und hinterher kamen die Reformierten haben gesagt: Frau Käßmann, das war aber ganz schön katholisch, was sie da gemacht haben. Und das macht das doch auch spannend.
Frage: Gemeinsames Abendmahl – wann sehen Sie realistisch dafür die Zeit gekommen?
Käßmann: Ich habe in einem Vortrag vor 30 Jahren mal gesagt: Das passiert auf jeden Fall noch in meiner Lebenszeit. Jetzt bin ich schon 62. Jetzt müssen sie sich langsam ein bisschen beeilen, denke ich.
Frage: Frau Käßmann, was geht Ihnen im Moment durch den Kopf, das nicht mit Corona zu tun hat?
Käßmann: Das kann ich jetzt so nicht beantworten, weil mir jetzt so sehr durch den Kopf geht, wie es den Kindern ergeht, die jetzt in die Sommerferien gehen, die alle versetzt werden und denen überhaupt nicht klar ist, wie es weitergehen soll in der Schule, weil sie im Grunde ein Drittel des Schuljahres verpasst haben, weil sie nicht alle Homeschooling gemacht haben. Und weil es da enorme Ängste gibt, das wird überall gesagt, wie es wieder schulisch weitergeht. Mich ärgert, dass es da überhaupt keine Bildungskonzepte gibt, wie das nächste Schuljahr dann anfangen soll. Es kann ja nicht einfach so anfangen, als wäre diese ganze Corona-Zeit nicht gewesen, und das ärgert mich im Moment besonders, dass da überhaupt nicht drüber geredet wird und ich keine bildungspolitischen Ansätze sehe, wie das in den Schulen nach den Sommerferien weitergehen soll.