Patriarch Rai für schnelle Neuwahlen im Libanon
Der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai hat sich für schnelle Neuwahlen im Libanon ausgesprochen. Es könne keine Konsensregierung geben, solange keine Einigkeit über die nötigen Reformen bestehe, sagte der Kardinal laut örtlichen Medienberichten in seiner Sonntagspredigt am Sommersitz des Patriarchats in Dimane. "Zusammen mit dem Volk wollen wir eine Regierung für den Staat und das Volk, nicht eine Regierung für Parteien, Konfessionen oder fremde Länder."
Es gehe um die Rettung des Libanon, und nicht die Rettung der Behörden und der herrschenden politischen Klasse, so Rai weiter. Der Libanon stehe vor größten Herausforderungen, und das maronitische Patriarchat werde jedwede Projekte zurückweisen, die zum Nachteil des Landes seien. Weiter forderte Rai, die Reformen nicht auf Verwaltungsreformen zu beschränken, sondern beispielsweise auch sicherheitspolitische und militärischen Aspekte zu bedenken. Die Sicherheitskräfte rief das Kirchenoberhaupt auf, die protestierenden jungen Menschen "zu umarmen und zu schützen". Sicherheit könne es nicht ohne Freiheit geben und politische Autorität nicht ohne das Volk.
Vor knapp zwei Wochen waren im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut große Mengen an Chemikalien explodiert, wodurch mindestens 220 Menschen getötet und mehr als 6.000 verletzt wurden. Aufgrund der darauffolgenden Massenproteste trat die Regierung des Landes unter Premierminister Hassan Diab zurück.
Neutralität könnte zur "Stabilität der Region" beitragen
Zudem machte sich Rai erneut für seine Idee einer aktiven Neutralität für den Libanon stark. Die Neutralität des Libanon sei Garant seiner Einheit und historischen Rolle, sagte Rai bei einer über den christlichen Sender "Noursat" übertragenen Pressekonferenz. Wie er sich diese Neutralität vorstellt, umreißt ein neunseitiges Memorandum, das Rai dabei vorstellte.
Die anvisierte Neutralität basiert laut einem vom Patriarchat auf Facebook veröffentlichten Redemanuskript auf drei nicht voneinander trennbaren Dimensionen. Zum einen müsse sich das Land von regionalen Konflikten distanzieren. Es dürfe keine Allianzen, politischen Konflikte, regionalen und internationalen Kriege eingehen, und kein Land dürfe sich in die inneren Angelegenheiten des Libanon einmischen. "Wir befinden uns heute in einer Spirale permanenten Krieges, und Neutralität ist der einzige Ausweg", sagte Rai.
Zweites Element ist demnach der Einsatz des Landes für Menschenrechte sowie Freiheit, vor allem der arabischen Völker. So könne der Libanon weiterhin die Rechte der Palästinenser verteidigen und an einer Lösung für palästinensische Flüchtlinge arbeiten. Drittens müsse der Staat gestärkt werden, um durch militärische Stärke, nationale Einheit und innere Sicherheit in der Lage zu sein, sich gegen jede Aggression Israels oder eines anderen Landes verteidigen zu können.
Libanon habe seit seiner Unabhängigkeit eine Politik der Neutralität zwischen Ost und West verfolgt, so Rai. Diese habe dem Land "trotz der Projekte der arabischen Einheit und trotz aller arabisch-israelischen Kriege seine territoriale Integrität" bewahrt, während alle anderen an Israel grenzenden Staaten Teile ihres Landes verloren haben. Gestört wurde dieses libanesische Gleichgewicht nach Einschätzung des Patriarchen durch das Eindringen der Palästinenser. Das Abkommen von Kairo (1969), das "palästinensischen Flüchtlingen das Recht einräumte, Operationen gegen Israel aus dem Libanon durchzuführen", bezeichnete das Kirchenoberhaupt als "Erbsünde".
Gelinge es, Libanon zu einer Neutralität zu bringen, könne dies "auch zur Stabilität der Region beitragen, die Rechte der arabischen Völker und die Sache des Friedens verteidigen und aufgrund seiner Lage am Mittelmeer eine Rolle bei der Herstellung gesunder und sicherer Beziehungen zwischen den Ländern des Nahen Ostens und Europas spielen", so Rai. Ferner könne eine derartige Neutralität die vielerorts zerbrochene christlich-islamische Partnerschaft wiederbeleben sowie den 18 anerkannten Religionsgemeinschaften Sicherheit und Stabilität zurückgeben. (rom/KNA)
17.08.2020, 12.30 Uhr: ergänzt um Ideen Kardinal Rais zur Neutralität des Libanon. /rom