Befragung: 1.412 Betroffene sexuellen Missbrauchs in deutschen Orden
Laut einer Mitgliederbefragung der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) sind den Orden in Deutschland bisher 1.412 mutmaßliche Betroffene sexuellen Missbrauchs in ihren Gemeinschaften und Institutionen bekannt. Insgesamt seien dabei 654 Ordensmitglieder beschuldigt worden, heißt es in den Ergebnissen der am Mittwoch in Bonn vorgestellten Befragung. Rund 80 Prozent der Betroffenen (1.131 Personen) haben demnach im Umfeld eines Männerordens, 20 Prozent (281 Personen) in Institutionen von Frauengemeinschaften Missbrauchserfahrungen gemacht. Der überwiegende Teil der Beschuldigten (79,8 Prozent) ist bereits verstorben.
Die Mitgliederbefragung der DOK stand unter dem Titel "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Ordensangehörige sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und zur Prävention". Gefragt wurde "nach eingegangenen Meldungen zu Grenzverletzungen, Übergriffen und sexuellem Missbrauch ohne Einschränkung auf einen bestimmten Zeitraum".
Drei Viertel der Gemeinschaften haben geantwortet
Von den insgesamt 392 Gemeinschaften, die zur DOK gehören, haben etwa drei Viertel (291) den Fragebogen beantwortet. In 100 der 291 Antworten (34,4 Prozent) wurden Missbrauchsvorwürfe bejaht – unabhängig davon, ob man diese für plausibel hielt oder nicht. Bei der Hälfte der Gemeinschaften (50) waren es weniger als fünf Meldungen, in rund 20 Gemeinschaften mehr als zehn und in einigen mehr als 100. Von den Beschuldigten sind 522 bereits verstorben. 95 sind noch Mitglied einer Ordensgemeinschaft; 37 sind es nicht mehr. Zu den insgesamt 654 Ordensmitgliedern, die Missbrauch begangen haben sollen, kommen außerdem 58 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Institutionen der Orden, die beschuldigt werden.
"Ja, Brüder und Schwestern unserer Gemeinschaften haben sexuellen Missbrauch verübt", sagte die DOK-Vorsitzende Schwester Katharina Kluitmann. Und auch im Umgang mit Missbrauch seien Fehler gemacht worden, so dass die Betroffenen sich anschließend nicht haben öffnen können. Die Zahlen hätten sie letztlich auch nicht überrascht, so Kluitmann weiter. Die Missbrauchsvorwürfe umfassten einen langen Zeitraum. In den 1950er und 1960er Jahren hätten die Orden zudem eine "Hochzeit" mit in der Spitze bis zu 115.000 Mitgliedern in Deutschland gehabt. Für die Generalsekretärin der DOK, Schwester Agnesita Dobler, sind diese "Hochzeit" und der Großteil bereits verstorbener Täter Indikatoren dafür, dass viele der Missbrauchsfälle im Kontext von Kinderheimen und Internaten stattgefunden haben müssen. Viele dieser Institutionen seien früher in der Trägerschaft von Orden gewesen, sagte Dobler.
Konflikte zwischen den mutmaßlichen Betroffenen und den Gemeinschaften gibt es laut den Umfrageergebnissen vor allem mit Blick auf die klare Einordnung der Beschuldigten als Täter und Täterinnen sowie auf die Entschädigungszahlungen. Hier wolle man zu einem einheitlichen System kommen, sagte Generalsekretärin Dobler. Zunächst sei jeder Orden selbst in der Pflicht, Anerkennungszahlungen zu leisten. Könne er die Summe nicht stemmen, sei jedoch eine solidarische Komponente vorgesehen. "Das haben uns die Bischöfe zugesagt", so Dobler. Bei einer durchschnittlichen Anerkennungszahlung von 25.000 bis 30.000 Euro pro Betroffenem rechnet die DOK insgesamt mit einer Summe von 30 bis 45 Millionen Euro. Da die Orden keine Kirchensteuermittel erhielten, sei dieser Betrag von den Gemeinschaften ohne die Hilfe der Diözesen nicht zu stemmen, heißt es seitens der DOK.
Kluitmann: Gemeinsame Studie aller Orden nicht sinnvoll
Die Mitgliederversammlung der DOK war im Mai 2019 zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nicht über differenzierte Kenntnisse zum Thema Missbrauch in den einzelnen Ordensgemeinschaften verfügt. Daraufhin sei einstimmig beschlossen worden, eine Mitgliederbefragung vorzunehmen. Diese habe der Verbesserung des eigenen Wissensstands gedient, nicht aber auf eine wissenschaftliche Verwertung abgezielt. "Für solch ein Vorhaben fehlen in der DOK finanzielle Mittel und personelle Ressourcen", heißt es dazu.
Man fange bei der Missbrauchsaufarbeitung und Prävention in den Orden nicht bei null an, sagte die DOK-Vorsitzende Kluitmann. Von 100 Prozent sei man allerdings auch noch weit entfernt. So verfügten etwa 168 der Gemeinschaften, die an der Befragung teilgenommen haben, nicht über einen eigenen Präventionsbeauftragten. Die DOK habe zwar keine Weisungsbefugnis und Durchgriffsrechte bei den Ordensgemeinschaften. Man müsse und wolle beim Thema Missbrauch aber weiter "anstoßen, unterstützen, fördern und vernetzen", so Kluitmann. Auch müsse es eine Form der unabhängigen Aufarbeitung geben, die eine wissenschaftliche Aufarbeitung einschließe. Eine gemeinsame Studie aller Ordensgemeinschaften hält sie aber nicht für sinnvoll. Es gebe einerseits Klausurorden, in denen die Schwestern in einem Sprechzimmer durch ein Gitter mit der Außenwelt kommunizieren. Andererseits seien da große Männerorden, zu denen Internate gehören. "Diese auf Missbrauchsfälle hin zu vergleichen, macht keinen Sinn", sagte Kluitmann. (bod)