Erzbischof Schick über 40 Jahre polnische Gewerkschaftsbewegung

Warum mancher in der Kirche Angst hatte, Solidarnosc zu unterstützen

Veröffentlicht am 31.08.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bamberg ‐ Erzbischof Ludwig Schick kann sich noch gut an Gespräche mit Geistlichen erinnern, die vor 40 Jahren der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc helfen wollten. Unterstützung bekamen sie und Arbeiterführer Walesa von einem großen Vorbild.

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Am 31. August 1980 unterzeichnete die polnische Regierung das Danziger Abkommen - der Moment gilt als die Geburtsstunde der freien Gewerkschaft Solidarnosc. Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick ist deutscher Vorsitzender einer Kontaktgruppe zwischen den Bischofskonferenzen von Deutschland und Polen. Im Interview erinnert Schick sich an die Gründung von Solidarnosc, spricht über die Werte der Bewegung und deren Bedeutung für das heutige Polen und zieht einen Vergleich zur Situation in Belarus.

Frage: Herr Erzbischof, wie haben Sie die Vorgänge in Polen damals verfolgt?

Erzbischof Ludwig Schick: Ich war noch in Rom und schloss meine Promotion gerade ab. Nach dem ersten Besuch von Papst Johannes Paul II. 1979 in Polen und seinen Reden über Solidarität und Freiheit sowie über die Bedeutung des Christentums für Europa warteten viele darauf, dass sich in Polen etwas ereignen würde. Der Papst wollte Veränderungen in seiner Heimat. Die soziale und politische Situation war dort vor allem seit 1970 sehr gespannt. Als die Streiks begannen, war klar, dass nicht nur die Arbeitsverhältnisse sich ändern würden, sondern auch die Politik und die Gesellschaft.

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick.

Frage: Welche Bedeutung hatten die Streiks damals für Sie?

Schick: Ich hatte viele polnische Freunde; mit ihnen freute ich mich: Der Papst war erfolgreich! Für die vom sowjetischen autoritären und antichristlichen Kommunismus unterdrückten Polen gab es Aussicht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Uns war damals klar, dass die Erfolge der Solidarnosc-Bewegung auch den Ostblock verändern und Auswirkungen auf die ganze Welt haben würde. Natürlich gab es auch Ängste, dass wie in Ungarn, Tschechien und auch in Polen 1970 die Sowjets mit aller Macht und Brutalität die Streiks unterdrücken würden. Ich erinnere mich an die große Spannung und die vielen Gespräche darüber, die wir damals in Rom führten.

Frage: Wie katholisch ist Solidarnosc?

Schick: Solidarnosc war von Anfang an mit der katholischen Kirche verbunden, die Mitglieder waren katholisch getaufte Christen, sie handelten aus dem Geist des Evangeliums. Alle wussten in Polen und in der ganzen Welt, dass die katholische Kirche ein entschiedener Gegner des kommunistischen Sowjetsystems war und alle unterstützte, die Freiheit und eine Veränderung der Gesellschaftsform anstrebten. Das war durch den Besuch von Johannes Paul II. im Jahr 1979 noch einmal verstärkt worden.

Frage: Welche Rolle spielten Kirche und Glaube konkret bei den Aktionen?

Schick: Solidarnosc ist damals zuerst nicht auf die Straßen und Plätze gegangen, wie es jetzt in Belarus geschieht, sondern besetzte die Fabriken und Werkstätten. Die Streikenden wünschten sich geistlichen Beistand durch Priester, die in den Fabriken die Messe feierten und die Sakramente spendeten, vor allem die Beichte. Die katholische Kirche hat die Solidaritätsbewegung und die Streikenden mit ihren Familien ideell und finanziell auf vielerlei Weise unterstützt.

Frage: Und die Kirche hatte keine Sorge, diesen Beistand zu gewähren?

Schick: Mancher in der Kirche hatte Angst, Solidarnosc zu unterstützen. Man glaubte, dass man durch solche Aktionen zu politisch würde und bei einer Niederschlagung der Streiks mitschuldig wäre an Verletzungen und Tötungen von Menschen. Es war auch nicht immer einfach, Priester zu dieser geistlichen Hilfe zu bewegen. Es war ja auch nicht ungefährlich. Das zeigt das Beispiel von Jerzy Popielusko, der seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt hat. Der Priester wurde inzwischen seliggesprochen.

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Als Johannes Paul II. vor 40 Jahren erstmals als Papst in seine Heimat reiste, konnte niemand die Folgen dieses Besuchs erahnen. Gestärkt von den Worten des Landsmanns, begann das polnische Volk, an der Macht der Kommunisten zu rütteln.

Frage: Solidarnosc war eine demokratische Bewegung. Wie ist es heute um Solidarnosc und deren Ideale in Polen bestellt?

Schick: Sie war eine demokratische Bewegung aus dem Geist der christlichen Freiheit und der Menschenrechte. Die Kirche hat mit gekämpft und auch ein anderes politisches System gefordert, weil Arbeiterinnen und Arbeiter nur in demokratischen Strukturen Ihre Reche wahrnehmen können. In Polen werden derzeit einige für eine Demokratie wichtige Institutionen infrage gestellt, zum Beispiel die unabhängige Justiz und die freie Presse. Für die Bewahrung der Demokratie muss die Unabhängigkeit dieser Institutionen eingefordert werden. Das gilt für Polen derzeit. Die Ideale von Solidarnosc sind nach wie vor wichtig.

Frage: Braucht es heute wieder mehr Solidarnosc?

Schick: Solidarnosc, also Solidarität, braucht es immer. Das Wort von Papst Johannes Paul II. gilt: ohne Solidarität keine Freiheit, ohne Freiheit keine humane Gesellschaft. Der Mensch kann nur persönlich und in allen seinen sozialen Bezügen menschlich handeln und ethisch verantwortlich sich einsetzen, wenn er in Freiheit leben und sich mit anderen verbinden kann. Es braucht daher immer Solidarität für Freiheit und Demokratie, für Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Einsatz für das Gemeinwohl, sowie auch für die Ausübung des christlichen Glaubens sowie jeder Religion und aller Menschenrechte.

Frage: Viele ziehen bei den aktuellen Protesten in Belarus Vergleiche mit Solidarnosc. Was halten Sie davon?

Schick: Natürlich gibt es Parallelen. In Belarus verlangen die Demonstranten Freiheit und eine Veränderung der politischen Strukturen. Das hat Solidarnosc 1980 auch getan. Die Anliegen, Freiheit und Wahrheit, Demokratie und politische Veränderungen in Belarus sollte von allen unterstützt werden, von der Internationalen Politik, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch den Bürgerbewegungen, damit diese Ziele erreicht werden, ohne Gewalt und Blutvergießen. Es braucht in Belarus jetzt auch Vereinbarungen zwischen Regierung und Opposition, die einen friedlichen Systemwechsel ermöglichen. Darum bete ich jeden Tag.

Von Christian Wölfel (KNA)