"Fratelli tutti": Papst Franziskus' Programm für eine brüderliche Welt
Diese Enzyklika ist lang. Mit gut 150 Seiten deutlich länger als die anderen beiden Enzykliken in Franziskus' Pontifikat, möglicherweise ist sie sogar die längste Enzyklika überhaupt. Immer wieder kreist Franziskus um zentrale Themen, umfangreich zitiert er aus eigenen Schriften, Reden und Predigten, immer wieder hat man den Eindruck, das Gesagte schon einmal, wenige Seiten zuvor, gelesen zu haben. Eine breiten Rezeption dürfte dieser mäandernde Stil nicht zuträglich sein. Zugleich zeigt es Franziskus' immer wieder betonte Methode der Unterscheidung, indem dasselbe Problem aus mehr oder minder verschiedenen Blickwinkeln immer wieder betrachtet und erwogen wird. Ein Lektor hätte dem Text dennoch gut getan.
Die meisten Motive der Enzyklika sind schon aus den – durchweg ausführlich zitierten – vorherigen Äußerungen des Papstes bekannt: der Stellenwert von Schweigen und Zuhören statt Reden und Senden; die Argumentation gegen ideologische Kolonialisierung und für Achtsamkeit gegenüber den je eigenen Werten und Traditionen der Kulturen; die Kritik an einer Logik der Selektion des Menschen, sei es durch ein wirtschaftliches System, das die Schwächsten vergisst, sei es durch mangelnde Wertschätzung am Anfang und am Ende des Lebens, sei es durch individuelles Handeln, das enge Kreise zieht und andere, die anders sind, ausschließt.
Rechnet Franziskus vielleicht damit, nicht mehr zum Schreiben eines weiteren großen Dokuments zu kommen? Wollte er noch einmal alles in dieser hohen Form des Lehramts sagen, um sein Programm mit höchster Autorität zu bewahren und in die Kirche einzuschreiben? Thematisch zeigt sich hier ein großer Bogen über seine drei Enzykliken: Erst die Beziehung zum Schöpfer (Lumen fidei, 2013), dann die Beziehung zur Schöpfung (Laudato si', 2015), nun die Beziehung zum Mitgeschöpf.
Große Überraschungen und spektakuläre Neuerungen bleiben aus, dafür zeigt sich eine große Kontinuität mit seinem Vorgänger. Benedikt XVI. hatte zwei seiner drei Enzykliken der Liebe gewidmet. "Deus caritas est" (2006) legte mit einer umfassenden Betrachtung den Grund, die Sozialenzyklika "Caritas in veritate" (2009) entwickelt dann Liebe als umfassende Wurzel für das gesamte gesellschaftliche Handeln aus christlichem Geist. Auch Franziskus kreist mit großer Sorgfalt um verschiedene Aspekte der Liebe, die als "soziale" Liebe Grundantrieb menschengemäßer, gemeinwohlorienterter Politik sein soll. Im revolutionären Dreiklang "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ist für Franziskus so auch die Brüderlichkeit das wichtigste und umfassende Prinzip. "Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) ist nicht einfach die Folge aus der Achtung individueller Freiheit oder aus einer gewissen geregelten Gleichheit", schreibt er. Brüderlichkeit ist für ihn "Bedingung der Möglichkeit" wohlverstandener Freiheit und Gleichheit, ohne die beide schal, oberflächlich und letztlich zum Scheitern verurteilt bleiben.
Wo sind die Schwestern?
Im Vorfeld wurde die Befürchtung geäußert, dass das zum Titel gewordene Zitat des heiligen Franziskus, der sich an die "Brüder alle" wendet, zumindest in der Wahrnehmung, wenn nicht in der Programmatik mangelnde Sensibilität für Geschlechtergerechtigkeit signalisiert. Aus Vatikan-Kreisen hört man, dass immerhin die Weisung ausgegeben wurde, "Fratelli tutti" wie "Laudato si" auch in den anderen Sprachversionen nicht zu übersetzen, sondern das italienische Zitat stehenzulassen. Tatsächlich ist eine vertiefte Beschäftigung mit Geschlechtergerechtigkeit kein Teil von Franziskus' Programm; immerhin heißt es gleich zu Beginn, dass Franz von Assisi sich mit "fratelli" an Brüder und Schwestern gewandt habe. So sehr der Papst sich dem Schicksal von Geflüchteten widmet, so wenig sind doch geschlechtsspezifische Formen von Gewalt und Verfolgung in seinem Blick, nur ein dürrer Absatz bezieht sich darauf. An mehreren Stellen wird es zwar als selbstverständlich dargestellt, dass Frauen gleich an Würde und Rechten sind, ausgeführt wird es nicht – dass die gegenwärtige klerikale Ordnung der Kirche Frauen an zentralen Stellen ausschließt und dass Frauen (und Männer) darunter leiden, scheint der ansonsten so leidsensible Franziskus nicht zu bemerken – und er liest anscheinend auch keine Frauen. In 288 Fußnoten wird nicht ein einziges Werk einer Frau angeführt.
Trotz der Länge bleibt manches auch nur angedeutet: Wenn Franziskus etwa einen falschen, weil zu individualistischen Begriff von Menschenrechten rügt, aber nicht darauf eingeht, was damit konkret gemeint ist. Geht es um die an anderer Stelle beklagte zu große wirtschaftliche Freiheit und das Eigentumsrecht? Oder soll wieder eine angebliche Gefährdung der Familie durch um rechtliche Anerkennung kämpfende sexuelle Minderheiten angedeutet werden? Wie Naturgewalten ist von "Mächtigen" die Rede, die handeln und die Kulturen der Welt einebnen wollen, von Macht- und Wirtschaftsinteressen, einmal sogar von "Globalismus", eine durch Rechtsextreme verschwörungsmythisch belastete Vokabel.
„Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können.“
Franziskus braucht anscheinend dieses Raunen, um zu Beginn die Stimmung zu setzen: Die Enzyklika zeichnet ein düsteres Bild von Ungleichheit, Armut und Elend. Einen erstaunlich großen Raum nimmt dabei eine Kritik der digitalen Öffentlichkeit ein. Der "Die Täuschung der Kommunikation" überschriebene Abschnitt über digitale Kommunikationsmittel reiht sich ein in die defizitorientierte Zeitdiagnose des Papstes: "Es bedarf der körperlichen Gesten, des Mienenspiels, der Momente des Schweigens, der Körpersprache und sogar des Geruchs, der zitternden Hände, des Errötens und des Schwitzens, denn all dies spricht und gehört zur menschlichen Kommunikation", plädiert Franziskus für den Stellenwert der Leiblichkeit – da nimmt es nicht Wunder, dass er digitaler Kommunikation nichts abgewinnen kann und dort nur Schamlosigkeit, Hass, Suchtpotentiale und bloß scheinbare Gemeinschaft erkennt.
Schamlosigkeit als zentrales Problem der politischen Öffentlichkeit
Hier zieht sich ein Muster dieses Pontifikats durch: Während unter Benedikt XVI. die Botschaften zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel analytisch scharf Risiken und Potentiale digitaler Kommunikation mit einer grundsätzlichen Offenheit für dieses neue Feld der Evangelisierung und des Lebens betrachtet haben, überwiegt bei Franziskus eine pessimistische Sicht, die selbst die eigenen Initiativen (wie das Online-Gebetsnetzwerk des Papstes) nicht zu kennen scheint. Klagen über Filterblasen und Echokammern prägen die Deutung des Digitalen (unfreiwillig komisch ist, dass ein Papst in einem Dokument Filterblasen und Echokammern problematisiert, das sich selbst in seinen Quellen fast ausschließlich auf päpstliche Texte stützt) – Netzwerke der Solidarität und Nachbarschaftshilfe, aber auch des Gebets und der Verbundenheit in einer Zeit des physischen Social Distancing scheinen dem Papst zu entgehen.
Die Klage über das abnehmende Bewusstsein für Privatsphäre führt zu einem Punkt, der für Franziskus' moralische Gegenwartsdeutung zentral ist: Schamlosigkeit. Ohne einen davon beim Namen zu lernen, schreibt er Politikern vom Schlage eines Donald Trumps, eines Jair Bolsonaros oder eines Rodrigo Dutertes ins Stammbuch: "Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne den Respekt der gesamten Welt ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden." Eine Ideologie der Schamlosigkeit hat für Franziskus Raum gegriffen, in der fehlende Selbstbeherrschung und schamlose Entäußerung öffentliche Diskurse prägen.
„Die digitale Vernetzung genügt nicht, um Brücken zu bauen; sie ist nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen.“
Wieder einmal wendet sich Franziskus gegen Abschottung durch Mauern wie durch politische Rhetorik, eine Kritik, die er in der zweiten Hälfte der Enzyklika noch einmal verdeutlicht: Verachtung für Schwache könne sich populistisch – durch Demagogie – und liberal – parteiisch für Reiche – zeigen. "Hinter beiden Fällen versteckt sich die Schwierigkeit, sich eine offene Welt vorzustellen, in der es Platz für alle gibt, die Schwächsten miteingeschlossen und in der die verschiedenen Kulturen respektiert werden."
Franziskus macht das Volk stark
Dem Begriff des Populismus widmet Franziskus eine längere Betrachtung – dass auch ihm immer wieder von seinen Kritikern Populismus vorgeworfen wird, scheint ihn zu treffen, zudem zeigt sich seine Prägung durch die argentinische "Teología del pueblo". Diese "Theologie des Volkes" greift Motive der Befreiungstheologie auf, ohne als marxistisch interpretierte Deutungsmuster wie den Klassenkampf aufzunehmen. In dieser Tradition macht Franziskus in seiner Enzyklika eine bevorzugte Option für die Ausgeschlossenen stark und tritt zugleich dafür ein, den Begriff des Populismus wenn nicht zu rehabilitieren, so doch seine inflationäre Verwendung zu problematisieren und "Volk" als nützliche Analysekategorie zu begreifen..
Populismus als "Interpretationsschlüssel für die soziale Wirklichkeit" zu verwenden, scheint dem Papst nämlich unzureichend. Zu sehr ist das Wort für ihn zum Totschlagargument geworden. Die negative Bedeutung von "Populismus" sieht er besser mit "Demagogie" umrissen, während bei "Populismus" die Gefahr bestünde, die "Legitimität des Volksbegriffs" zu untergraben. Franziskus nämlich macht den Begriff "Volk" stark: Er sei "notwendig, um auszusagen, dass die Gesellschaft mehr ist als die bloße Summe von Individuen". "Volk" ist für Franziskus, so sagt er selbst, eher eine "mythische" als eine "logische" Kategorie, eine Form von kollektiver Erzählgemeinschaft, bei der einzelne Menschen zusammenkommen und gemeinsam am Gemeinwesen und der Zukunft arbeiten. Sein Volk ist nicht völkisch: "In der Tat ist die Kategorie 'Volk' offen. Ein lebendiges, dynamisches Volk mit Zukunft ist jenes, das beständig offen für neue Synthesen bleibt, indem es in sich das aufnimmt, was verschieden ist."
Ein Modell für diese offene Welt ist der biblische Kern der Enzyklika im zweiten Kapitel, "Ein Fremder auf dem Weg". Hier deutet Franziskus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das für ihn ein Modell geschwisterlichen Handelns ist: "Dieser Text lädt uns ein, unsere Berufung als Bürger unseres Landes und der ganzen Welt, als Erbauer einer neuen sozialen Verbundenheit wieder aufleben zu lassen." Franziskus' Lösung für die von ihm diagnostizierten Probleme ist, wie der barmherzige Samariter zu werden: "Das Gleichnis zeigt uns, mit welchen Initiativen man eine Gemeinschaft erneuern kann, ausgehend von Männern und Frauen, die sich der Zerbrechlichkeit der anderen annehmen."
Das Evangelium ignatianisch gelesen
Eine der stärksten Stellen der Enzyklika und zugleich eine kompakte Zusammenfassung der Methode Franziskus ist die Schlussfolgerung aus der Deutung des Gleichnisses: Es komme nicht auf eine "Lehre abstrakter Ideale" an oder eine "Funktionalität einer sozialethischen Moral". Der Grundimpuls, den Franziskus als zentral für die Überwindung von Leid, Armut und Vereinzelung sieht, ist die Überwindung der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen: "Das muss uns so empören, dass wir unsere Gelassenheit verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde."
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter greift neben der Sorge für den Nächsten ein zweites Motiv der Enzyklika auf: Das der Geschwisterlichkeit, die kulturelle, geographische und religiöse Unterschiede überwindet: "Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen dem Bewohner von Judäa und dem von Samaria, es gibt weder Priester noch Händler; es gibt einfach zwei Arten von Menschen: jene, die sich des Schmerzes annehmen, und jene, die einen Bogen herum machen; jene, die sich herunterbücken, wenn sie den gefallenen Menschen bemerken, und jene, die den Blick abwenden und den Schritt beschleunigen."
„Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? Bücken wir uns, um uns gegenseitig auf den Schultern zu tragen?“
Intensiv und systematisch analysiert Franziskus das Gleichnis – hier bemerkt man die jesuitische Prägung des Papstes. Nach der Methode der ignatianischen Exerzitien vergegenwärtigt Franziskus sich und dem Leser die Situation und die handelnden Personen. Die Räuber sind schon verschwunden, Jesus geht kaum auf sie ein. "Wir kennen sie", konstatiert Franziskus, dazu braucht es nicht viele Worte. Es kommt stattdessen darauf an, was wir mit dem unter die Räuber Gekommenen tun. Franziskus lenkt den Blick auf diejenigen, die vorübergehen, Priester und Leviten. "Es weist darauf hin, dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, nicht gewährleistet, so zu leben, wie es Gott gefällt", betont der Papst. Schließlich ist es der Überfallene selbst, in dem man sich oft auch selbst erkennen kann: "Wir fühlen uns auch von unseren wehrlosen, schlecht ausgerüsteten Institutionen verlassen, die manchmal den Interessen einiger weniger von innen oder außen zu Dienste stehen." Der Samariter handelt nicht allein, er sucht Hilfe in der Herberge, und er sucht kein Lob, geht später einfach weiter. "Hingabe im Dienst", die Erfüllung seiner Pflicht war ihm Lohn genug.
Der barmherzige Samariter als Blaupause
Diese Deutung des Gleichnisses ist für Franziskus die Blaupause sozialen Handelns. Das konkrete Leiden eines Einzelnen ist für ihn der Ausgangspunkt für Veränderung: "Wir fangen an, für das zu kämpfen, was am konkretesten und örtlich begrenzt ist, und gehen weiter bis zum letzten Winkel des eigenen Landes und der ganzen Welt mit der gleichen Sorgfalt, die der Reisende von Samaria für jede einzelne Wunde des verletzten Menschen hegte." Mit Nächstenliebe ist im Gleichnis nicht die Nähe von Familie, Religion und Vaterland gemeint, sondern der Mensch, der die Hilfe gerade am nötigsten hatte: "Um sich ihm zu nähern und bei ihm zu sein, hat er alle kulturellen und geschichtlichen Schranken überwunden."
In einem Nachsatz zeigt sich der Papst auch mit Blick auf die Kirche kritisch; zu lange habe es gedauert, bis sie sich gegen Sklaverei und "verschiedene Formen der Gewalt" ausgesprochen habe (Franziskus geht nicht ins Detail; gemeint sind wohl Bewegungen wie die hin zu einer Friedensethik oder das Umschwenken bei der Bewertung der Todesstrafe, die er später noch ausführlich nachzeichnet). "Durch die Weiterentwicklung von Spiritualität und Theologie haben wir heute keine Entschuldigung mehr", deutet der Papst auch eine Lernfähigkeit und wachsende Leidenssensibilität des Lehramtes an.
Immer wieder klingen kritische Anmerkungen zum Handeln vorgeblich Gläubiger an. Franziskus macht die Bedeutung der Liebe im Konzert der Tugenden stark. Wie an anderen Stellen beklagt er auch hier eine gewisse Lieblosigkeit mancher Gläubiger: "Es gibt jedoch Gläubige, die meinen, ihre Größe bestünde darin, anderen ihre Ideologien aufzuzwingen, sei es in der gewaltsamen Verteidigung der Wahrheit, sei es in großen Machtdemonstrationen." Religiöser Triumphalismus und ein identitärer Glaube, der sein Heil vor allem in der Abgrenzung zu anderen sucht, sind mit Franziskus' Vision nicht kompatibel.
Vielfalt gehört zur Welt
Gleichzeitig redet er aber auch nicht einem bindungslosen Universalismus und einer einebnenden internationalen Gleichmacherei das Wort. Zwar verlangt die Liebe für den Papst eine fortschreitende Öffnung und Weitung der Beziehungen, jedoch nicht auf Kosten der jeweiligen Kulturen – hier befürchtet Franziskus eine Welt ohne "Vielfalt ihrer Farben, ihrer Schönheit und letztlich ihrer Menschlichkeit" – wenn aber Einwanderung eine Kultur prägt und verändert, ist das für Franziskus auch nichts, was zu beklagen wäre, sondern Teil einer organischen Weiterentwicklung.
Der Ruf nach "sozialer Freundschaft" richtet sich dabei für den Papst sowohl international in die Welt hinaus wie zu den Rändern der eigenen Gesellschaft, zu den Ausgestoßenen innerhalb einer Gesellschaft. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter sei auch das angelegt: Wer an dem Verletzten vorbeiging, tat das auch aufgrund von Standesdünkel und Abgrenzung.
„Die Brüderlichkeit fügt der Freiheit und Gleichheit noch positiv etwas hinzu.“
Politisch fordert Franziskus klar einen starken Sozialstaat, der "präsent und aktiv" ist. Zivilgesellschaftliche Institutionen sollen darüber wachen, dass nicht nur leistungsorientierte Mechanismen zum Tragen kommen. Klar wendet sich Franziskus gegen einen rein wirtschaftlich verstandenen Freiheitsbegriff, der sich auf staatliche Zurückhaltung beschränkt und nicht die Armen und Benachteiligten im Blick hat: "Worte wie Freiheit, Demokratie oder Geschwisterlichkeit verlieren dann ihren Sinn." Stattdessen macht er die Rolle des Staates zum Erreichen von Chancengleichheit stark und kritisiert eine Verabsolutierung des Eigentumsbegriffs, den die Kirche in der Tradition der Soziallehre nie als "absolut und unveräußerlich" gesehen hat. Franziskus bezeichnet das Eigentum als "sekundäres Naturrecht", "das sich aus dem Prinzip der universalen Bestimmung der geschaffenen Güter ableitet, und dies hat sehr konkrete Konsequenzen, die sich im Funktionieren der Gesellschaft widerspiegeln müssen".
Aufnehmen, schützen, fördern und integrieren
Im Bereich der internationalen Politik macht sich der Papst für eine "Ethik der internationalen Beziehungen" stark; neben individuelle Menschenrechte sollen auch Recht von Gesellschaften und Völkern auf Fortschritt und Bestand treten. Als Plädoyer für ein unverbundenes Nebeneinander soll das aber nicht verstanden werden, auch nicht für eine ethnopluralistische Vorstellung, wie sie in der extremen Rechten zur Kaschierung rassistischer Weltbilder kursiert und derzufolge unterschiedliche Kulturen möglichst rein und unvermischt an unterschiedlichen Orten zu leben hätten.
Stets macht Franziskus die Rechte der Migranten und Geflüchteten stark und die Pflicht des humanen Umgangs mit ihnen. Auch wenn eine Beseitigung der Fluchtursachen für den Papst das Ideal darstellt: Die Wirklichkeit ist anders. "Solange es jedoch keine wirklichen Fortschritte in dieser Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann." Der Papst bringt sein Programm auf vier Wörter – wohl nicht zufällig Verben: "aufnehmen, schützen, fördern und integrieren". Hier wird Franziskus auch besonders konkret und schlägt unter anderem Visaprogramme und vereinfachte Asylverfahren, humanitäre Korridore und menschenwürdige Unterkünfte, ein Recht auf Arbeit, Bildung und Freizügigkeit vor.
„Die wahre Weisheit beinhaltet die Begegnung mit der Wirklichkeit.“
Im Vorfeld wurde viel darüber spekuliert, ob der Fokus einer Enzyklika über Brüderlichkeit der interreligiöse Dialog sein könnte. Es ist anders gekommen; "Brüderlichkeit" fasst Franziskus sowohl weiter als auch enger als es eine sich speziell mit dem interreligiösen Dialog befassende theologische Abhandlung tun würde. Weiter, da seine Abhandlung alle Menschen betrifft und Fragen des Religionsdialogs überschreitet, enger, weil es um eine spezifisch christlich fundierte Tugend als Bedingung für das Gemeinwohl geht. Dennoch nimmt das 2019 in Abu Dhabi gemeinsam mit dem Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb unterzeichnete "Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt" eine bedeutende Stelle ein.
Religionen gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit
Tatsächlich rahmt der Dialog unter den Religionen die Enzyklika ein: Franziskus beginnt mit Franz von Assisi, der zum ägyptischen Sultan reist, erwähnt das Dokument von Abu Dhabi zwischendurch immer wieder (fünfmal taucht der Großimam auf, so oft wie niemand anderes in der Enzyklika), und endet mit einem Kapitel über "Religionen im Dienst der Geschwisterlichkeit an der Welt". Franziskus gründet die Möglichkeit umfassender Solidarität in einem gemeinsamen Glauben an Gott: "Als Gläubige sind wir davon überzeugt, dass es ohne eine Offenheit gegenüber dem Vater aller keine soliden und beständigen Gründe für den Aufruf zur Geschwisterlichkeit geben kann." Damit ist für Franziskus auch die Legitimation benannt, aus der heraus Religionsvertreter sich auch unter der Bedingung der Trennung von Kirche und Staat zu politischen Belangen äußern müssen. Die Kirche "kann und darf beim Aufbau einer besseren Welt nicht abseits stehen".
Über die Betonung des Friedens hinaus steht wenig zum interreligiösen Dialog im engeren Sinn in der Enzyklika. Wichtiger als die theologische Grundlegung – der Papst geht nur etwas intensiver auf das christliche Proprium im Unterschied zum gemeinsamen Bekenntnis verschiedener Religionen zum einen Gott ein – ist der Aufruf zur Tat: Franziskus wiederholt den Aufruf für Frieden und Gerechtigkeit von Abu Dhabi.
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Die Enzyklika beginnt mit Franz von Assisi. Sie endet mit dem Kairoer Großimam und einem Blick auf weitere Glaubenszeugen, die dem Papst als Inspiration für seine Vision der Brüderlichkeit dienten: Martin Luther King, Desmond Tutu und Mahatma Gandhi nennt er beim Namen, um schließlich mit Charles de Foucauld, der wie Franz von Assisi für einen respektvollen Dialog mit Muslimen steht, zu schließen: "Er wollte letztendlich 'der Bruder aller' sein. Aber nur durch die Identifikation mit den Geringsten wurde er zum Bruder aller Menschen."
Hoffnungsvoller Gegenentwurf
Mit zwei Gebeten – einem "Gebet zum Schöpfer", das wohl von allen monotheistischen Gläubigen geteilt werden kann, und einem "Ökumenischen Gebet" mit trinitarischer Formel – endet die Enzyklika nach fast 300 Abschnitten. Franziskus hat mit dieser Summe seines Denkens – wohl kaum ein während seines Pontifikats angesprochener Aspekt kommt nicht vor – viele, vielleicht zu viele Akzente gesetzt. Ob es wirklich jedes Thema in dieser Tiefe gebraucht hätte (mehrere Seiten widmet er allein der Todesstrafe), kann man bezweifeln. Wie es geschehen kann, dass eine Sozialenzyklika nicht nur im Titel weitgehend ohne Frauen auskommt, kann man kaum verstehen.
Die Aufnahme zentraler Gedanken der "Teología del pueblo" ins päpstliche Lehramt aber dürfte ein wichtiger Impuls für die Weiterentwicklung der Soziallehre der Kirche sein: Angesichts von Überfremdungsängsten, Sorge um die eigene Identität, Erstarken völkischer Bewegungen und demagogischer Politik, angesichts einer Abschottung der Außengrenzen Europas und einer egoistischen Fühllosigkeit reicher Staaten ist Franziskus' Vision eines positiven Volksbegriffs, der nicht identitär-abschottend, sondern offen, integrativ und kulturell so divers wie sensibel ist, ein hoffnungsvoller Gegenentwurf zu dem, was täglich die Nachrichten dominiert.