"Aufeinander hören und zusammen Kirche sein"

Hollerich: Blasen von Traditionalisten und Progressiven müssen platzen

Veröffentlicht am 19.10.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Luxemburg ‐ Die Kirche sei stark polarisiert, findet Kardinal Jean-Claude Hollerich: Die Positionen würden immer radikaler, die Wortmeldungen von Bischöfen widersprächen sich teils diametral. Der Luxemburger Erzbischof erläutert, wie ein Ausweg aussehen könnte.

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Die Zivilisation mache gerade einen großen Wandel hin zu einer digitalen Kultur durch: Das müssten auch die Kirche und die Gläubigen in ihren Debatten berücksichtigen, fordert Kardinal Jean-Claude Hollerich, der Erzbischof von Luxemburg. Als Vorsitzender der EU-Bischofskommission COMECE hat er immer auch einen besonderen Blick auf die politischen Entwicklungen in Europa.

Frage: Herr Kardinal, wie war das erste Jahr als Kardinal?

Hollerich: Ich bin noch immer verwundert, dass der Papst mich ausgewählt hat. Das sind sehr große Schuhe – und ich versuche, sie so gut es geht zu füllen. Mich freut die Verbindung zum Papst. Ich bewundere ihn sehr und möchte ihn in seiner Mission unterstützen.

Frage: Wie nehmen Sie die aktuellen Debatten über Kirche wahr?

Hollerich: Die Kirche ist stark polarisiert. Im Internet finden sich immer radikale Positionierungen. Auch die Aussagen von Bischöfen widersprechen sich zum Teil: Die einen sind strikt für etwas, andere auf jeden Fall dagegen. Oft zeigt sich ein großes Durcheinander, in dem einige anderen die Katholizität absprechen. Ich befürchte, dass das erst der Anfang ist.

Frage: Was meinen Sie damit?

Hollerich: Wir erleben einen riesigen Zivilisationswandel hin zu einer digitalen Kultur, die alle Aspekte unseres Menschseins betreffen wird. Die griechisch-jüdische Kultur, in der auch der christliche Glaube verwurzelt ist, verliert jeden Tag an Intensität. Die vielen Blasen – von Traditionalisten, Progressiven und Liberalen – müssen wir platzen lassen. Wir dürfen die verschiedenen Ansätze nicht ignorieren, sondern müssen die Spannung aushalten und einen offenen Dialog führen. Das heißt: aufeinander hören und zusammen Kirche sein. Dazu gehört für mich, das Evangelium im Alltag zu leben und es in Worte zu fassen für die Menschen von heute und morgen.

Firmlinge des Theresianums auf dem Jakobsberg
Bild: ©Privat (Symbolbild)

Die Kirche könne von den Jugendlichen lernen, wass sich in der Sprache, im Denken und in den Bedürfnissen ändere, so Kardinal Hollerich.

Frage: Wie kann das gelingen?

Hollerich: Wir müssen näher bei den Menschen sein und die großen Glaubensfragen in einfachen Worten ausdrücken. Ich verbringe sehr gerne Zeit mit der Jugend und merke, was sich in der Sprache, im Denken und in den Bedürfnissen ändert. Wir tendieren in der katholischen Kirche manchmal dazu, die Vergangenheit zu glorifizieren, statt Gott in der Gegenwart zu suchen.

Ein Beispiel: Ein Jugendlicher wollte unbedingt mit mir sprechen. Wir haben eine Zeit ausgemacht – und ich dachte, er kommt und klingelt. Er hat stattdessen mit mir gechattet. Für ihn bedeutete Sprechen also Chatten. Das sind Kleinigkeiten – aber sie zeigen, dass sich viel ändert.

Frage: Die EU hat Pläne für eine geänderte Asylpolitik vorgestellt und setzt auf Abschiebungen und schnellere Verfahren.

Hollerich: Davon bin ich nicht begeistert. Dennoch sollten wir Realpolitik unterstützen. Zurzeit scheint in Europa nicht viel möglich zu sein. Wenn die EU eine gemeinsame Haltung entwickelt, ist schon das positiv. Im Grundsatz müssen wir lernen, menschlicher zu sein. Wir leben mit Feindbildern, Verallgemeinerungen. Aber 'die Asylbewerber' oder 'die Muslime' – die gibt es so wenig wie 'die Katholiken'.

Was mich bedrückt: Die Corona-Krise stellt die EU vor Herausforderungen. Wenn eine große zweite Pandemie-Welle kommt und wir in nationale Reaktionen zurückfallen, dann hat das Virus den Sprengstoff, die EU zu zerschlagen. Da müssen wir sehr aufpassen und das, was wir in Europa haben, zum Wohl aller Menschen weiterentwickeln.

„Wir tendieren in der katholischen Kirche manchmal dazu, die Vergangenheit zu glorifizieren, statt Gott in der Gegenwart zu suchen.“

—  Zitat: Kardinal Jean-Claude Hollerich

Frage: Im Zuge der Corona-Krise hat die Kirche in Luxemburg ein Drittel der Kirchgänger dauerhaft verloren, sagt Weihbischof Leo Wagener. Teilen Sie diese Einschätzung?

Hollerich: Wir sind säkularisierter als Deutschland und haben sehr viele Kulturchristen. Viele Familien schicken ihr Kind nicht aus Glaubensgründen zur Erstkommunion, sondern wollen an Traditionen festhalten. Jetzt merken viele, dass sie gut ohne diese Traditionen leben können. Und dann gibt es noch viele alte Menschen, die Angst haben und die auch nicht zurückkommen werden.

Frage: Kirche und Staat in Ihrem Land sind seit zwei Jahren getrennt. Anders als in Deutschland gibt es keine Kirchensteuern und keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Wie hat sich das entwickelt?

Hollerich: Die Trennung hat den Säkularisierungsprozess beschleunigt. Man kann das bedauern oder akzeptieren, dass wir uns neu aufstellen müssen. Es ist für uns als Kirche jetzt sehr schwierig, Kinder zu erreichen, um über den Glauben zu sprechen. Wir haben keinen Zugang zu Schulen und dürfen dort meist auch kein Material austeilen oder auf Angebote hinweisen. Auch der Unterhalt der Gebäude ist schwieriger geworden. Vieles tut weh. Aber: ohne Kreuz keine Auferstehung.

Von Anna Fries (KNA)