Verschwörungsmythen und Religion: Was sie verbindet und was sie trennt
Den Glauben an Verschwörungen gibt es schon seit vielen Jahrhunderten, doch aktuell fühlen sich wieder mehr Menschen zu diesen Erzählungen hingezogen. Warum Juden, Frauen und sogar der Papst im Zentrum eines Verschwörungsmythos stehen, erklärt der Religionswissenschaftler und Antisemitismus-Beauftragte Michael Blume im Gespräch mit katholisch.de.
Frage: Herr Blume, Sie sprechen in ihrem vor Kurzem erschienenen Buch von Verschwörungsmythen. Warum benutzen Sie nicht den bekannteren Begriff Verschwörungstheorien?
Blume: Der Begriff Verschwörungstheorie entstand im 18./19. Jahrhundert aus der Kriminologie. Damals hat man von Polizisten, die eine Leiche gefunden hatten, erwartet, dass sie die Krankheitstheorie, die Unfalltheorie oder die Verschwörungstheorie ausschließen. Richtig geprägt hat den Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch der berühmte Philosoph Karl Popper. Er wollte davor warnen, dass Verschwörungstheorien keine richtigen Theorien sind, sondern Aberglauben, vor dem man aufpassen muss. Wir sind heute einen Schritt weiter und sagen, diese Mythen sind keine wissenschaftlichen Theorien, sondern Erzählungen, mit denen sich Menschen die Welt deuten und Gemeinschaft erschaffen. Wie positive Mythen den Glauben an das Gute in der Welt bekunden, so wollen Verschwörungsmythen eine angebliche Weltherrschaft des Bösen aufdecken.
Frage: Was sind die Unterschiede zwischen religiösem Glauben und Verschwörungsmythen?
Blume: Der ganz große Unterschied ist, dass ein religiöser Glaube wissen kann, dass er ein Glaube ist: Wir können aufgeklärt glauben. Wenn wir etwa davon ausgehen, dass Gott Jesus auf die Erde gesandt hat, um die Menschheit zu erlösen, können wir aber gleichzeitig wissen, dass es ein religiöser Glaube ist und eben keine wissenschaftliche Theorie. Bei einem Verschwörungsglauben dagegen ist das nicht möglich, denn er wird nicht hinterfragt. Die Menschen glauben dann unkritisch, dass es die vermeintliche Weltverschwörung, meist von Juden und Frauen, gibt und dass diese Verschwörung sie bedrohen würde, wie es etwa bei QAnon der Fall ist. Diese Bewegung glaubt, dass es eine weltweite Verschwörung gibt und Donald Trump die Menschen als Erlöser daraus befreien kann. Ein aufgeklärtes Verhältnis zu dieser Vorstellung ist nicht mehr möglich. Im Kern geht es darum, dass ein religiöser Glaube mit Vertrauen und Vernunft einhergehen kann, ein Verschwörungsmythos jedoch in der Regel mit Angst und Misstrauen verbunden ist.
Frage: Gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden?
Blume: Beide Arten von Mythen, sowohl religiöse wie auch Verschwörungsmythen, stiften Sinn. Sie erklären mir, warum ich eigentlich auf der Welt bin. Der Verschwörungsgläubige geht davon aus, dass er im Kampf gegen das weltweite Böse ist. Außerdem stiften beide Arten von Mythen Gemeinschaft: Die Anhänger gehören zu einer Gruppe von Menschen, die ihren Glauben teilen. Die Verschwörungsmythen sind derzeit auch wieder so stark, weil sich die Menschen über das Internet ganz einfach untereinander vernetzen können. Bei vereinzelten und verängstigten Menschen entsteht auf diese Weise das Gefühl, dass ihre Bewegungen sehr groß sind und nun diese angeblichen teuflischen Verschwörungen zerschlagen können.
Frage: Abgesehen von der Rolle des Internets: Warum haben Verschwörungsmythen aktuell einen so großen Zulauf?
Blume: Immer, wenn es gesellschaftliche Umwälzungen und Unsicherheiten gab, also Wirtschaftskrisen, Kriege und Pandemien, haben wir in der Geschichte einen Ausbruch von Verschwörungsmythen gehabt. Im Mittelalter etwa die sogenannten Pestpogrome. Man muss anerkennen, dass wir heute gesellschaftlich weiter sind, denn es sind aktuell Minderheiten, die Verschwörungsmythen anhängen. Aber die psychologischen Mechanismen, die zu diesem Glauben führen, sind natürlich weiterhin vorhanden. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass der Glaube an Verschwörungen nicht so schnell verschwinden wird, sondern, dass Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit sich in Zukunft etwa an die Klimaveränderung binden werden. Deshalb wird uns dieses Thema noch einige Generationen beschäftigen.
Frage: Sie haben die Psychologie hinter den Verschwörungsmythen angesprochen. Was passiert bei Menschen, die an diese Erzählungen glauben?
Blume: Wenn wir Schlimmes erleben, haben wir immer zwei Möglichkeiten: Wir können vertrauen und gemeinsam mit anderen durch eine schwierige Situation hindurchgehen. Oder wir können innerlich abblocken, also, anstatt die Angst anzunehmen, sie auf vermeintliche Feinde projizieren. Personen, die sich so entscheiden, suchen sich Schuldige für ihre Situation, damit sie sich ihrer Angst nicht mehr stellen brauchen. Sie glauben, sie könnten sie niederschreien. Wir wissen aus der Geschichte, dass das nie geholfen hat – weder bei einer Pandemie noch bei einer Wirtschaftskrise hilft es, gegen vermeintliche Verschwörer zu marschieren, aber es fühlt sich für diese Menschen in diesem Moment entlastend an.
Frage: Das hört sich nach einer sehr einfachen Erklärung an. Aber warum hängen dann auch gut ausgebildete Menschen diesen Mythen an?
Blume: Ein gutes Beispiel dafür ist der Philosoph Martin Heidegger, der ursprünglich katholische Theologie studiert hat, seinen Glauben verlor und ein glühender Antisemit wurde – und das, obwohl er ein weltbekannter Philosophieprofessor war und sogar jüdische Lehrer hatte. Daran sieht man, dass formale Bildung allein nicht vor einem Verschwörungsglauben schützt. Viel entscheidender sind die Kindheitserfahrungen, also ob man mit einem Wertgefühl des Vertrauens aufgewachsen ist, sichere Beziehungen hatte, geliebt wurde, Hilfe und Unterstützung auch bei Problemen und Fehlern erfahren hat. Oder aber, ob man in einem autoritären Umfeld voller Angst, Misstrauen und vielleicht sogar Gewalt groß wurde. Diese autoritären, häufig patriarchalischen Prägungen können sich dann im Erwachsenenalter auswirken, selbst wenn man einen Doktortitel trägt oder Ingenieur ist. Deshalb gibt es etwa bei vielen älteren Herren, die in den Ruhestand gehen, das Phänomen, dass diese Prägungen wieder hervorkommen und sich durch das Internet verstärken.
Frage: Viele Verschwörungsmythen knüpfen an Erzählungen einer der drei abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam an. Ist das Zufall oder in diesen Religionen selbst begründet?
Blume: Diese drei Religionen haben die Lehre von einem einzigen guten Gott. Da lag es immer nahe, zu sagen, alles Böse müsse von einem Gegengott kommen. Das rabbinische Judentum hat sich nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels intensiv mit diesem Problem beschäftigt und festgelegt, dass sowohl Gutes wie Böses von dem einen Gott ausgeht. Im Christentum und Islam haben wir leider auch heute noch dualistische Strömungen. So glauben Anhänger des "Islamischen Staates" allen Ernstes, sie kämpften mit Selbstmordattentaten gegen den Teufel. Dieser Dualismus ist eine Herausforderung aller Religionen und alle können voneinander und gerade vom Judentum lernen, mit dieser Gefahr umzugehen.
Frage: Nach Ihrer Theorie müssten Verschwörungsmythen es bei den fernöstlichen Religionen, die nicht wie die abrahamischen Glaubensgemeinschaften an einen Gott glauben, wesentlich schwerer haben, einen Anknüpfungspunkt zu finden…
Blume: Leider sehen wir heute in hinduistisch geprägten Ländern wie Indien oder buddhistisch geprägten Staaten wie Myanmar die gleichen Mechanismen. Dort werden auch antisemitische, fremdenfeindliche oder rassistische Mythen verbreitet und gegen Minderheiten wie etwa Muslime verwendet. Wahrscheinlich sind Religionen und nichtreligiöse Weltanschauungen unterschiedlich stark von Verschwörungsmythen betroffen, aber niemand kann sich darauf zurückziehen, zu sagen, dass es so etwas bei ihm nicht gebe. Auch im Namen des Marxismus sind Verschwörungsmythen verbreitet worden, so wurden zur Zeit Stalins Kampagnen gegen Trotzkisten gefahren und es gab die Vorstellung von einer sogenannten Ärzteverschwörung. Keine Religion oder Weltanschauung ist davor gefeit.
Frage: In vielen Verschwörungsmythen spielt eine angebliche jüdische Weltverschwörung eine große Rolle. Warum ist gerade diese Erzählung so wirkmächtig?
Blume: Das Judentum war die erste Religion der Schrift und der Bildung. Es war der erste Glaube, der sich nicht auf Götterstatuen oder Naturheiligtümer stützte, sondern allein auf eine heilige Schrift. Schon in der Antike gab es deshalb Vorbehalte gegen die Juden: Sie seien ein merkwürdiges Volk, denn sie würden immer zusammenhalten, seien so gebildet, lösten sich trotz der Zerstörung des Tempels nicht auf und würden trotz der Verstreuung in aller Welt Kontakt zueinander halten. Diese Verschwörungsmythen haben sich über Christentum, den Islam und auch die Aufklärung bis in die heutige Zeit globalisiert. Deshalb ist der Antisemitismus neben der Frauenfeindlichkeit die älteste Quelle des Verschwörungsglaubens.
Frage: Auch die katholische Kirche und der Vatikan spielen oft eine Rolle in Verschwörungsmythen. Erst vor Kurzem verbreiteten rechtskatholische Kreise das Gerücht, mit seiner neuen Enzyklika "Fratelli tutti", in der es auch um den Begriff der Freundschaft geht, übernehme Papst Franziskus dieses Konzept aus dem Freimaurertum. Warum dieses Interesse für den Katholizismus?
Blume: Das hat mit dem Antisemitismus zu tun: Das außerordentlich Gefährliche an ihm ist, dass er mit jedem anderen Verschwörungsmythos kombiniert werden kann. Seien es die Jesuiten, die Muslimbrüder oder, wie etwa in der NS-Zeit, die Roma und Sinti, die überwiegend Christen sind – ich kann jede Gruppe, gegen die ich Vorbehalte habe, als Teil dieser vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung deuten. Und gerade bei progressiveren Päpsten ist es immer wieder aufgetreten, dass man sie für einen Teil der jüdischen Weltverschwörung hielt. Das erleben wir derzeit auch bei Papst Franziskus. Der Antisemitismus bedroht letztlich uns alle. "Antisemitismus beginnt immer bei Juden, aber er endet nie bei ihnen", so hat es Jonathan Sacks formuliert, der ehemalige Oberrabbiner von Großbritannien. Jede Person kann in diesen Verschwörungsmythos einbezogen werden. Allein deswegen muss man Antisemitismus entschieden entgegentreten.
„Autoritäre Persönlichkeiten reagieren nicht auf Kuschelpädagogik, vielmehr lechzen sie nach klaren Grenzen. Deshalb würde ich religiöse Verantwortliche dazu aufrufen, dass sie klar sagen, was etwa ein Glauben an den Teufel nicht ist, und dass man andere Menschen nicht mit dem Satan identifizieren kann.“
Frage: Was kann man Verschwörungsmythen entgegensetzen und wie sollte man mit Personen umgehen, die sie vertreten?
Blume: Ganz wichtig ist, dass man sich zunächst selbst informiert und dadurch schützt. Wenn man nämlich die Psychologie der Verschwörungsmythen einmal verstanden hat, wird man auch ein Stück weit selbst immun dagegen. Man sollte mit Menschen möglichst früh sprechen, wenn sie in diesen Bereich abdriften, denn am Anfang sind sie häufig noch zugänglich für Argumente. Wenn das nicht mehr funktioniert, kann man fundierte Inhalte anbieten, etwa unseren Podcast, Bücher, eine gute Predigt. Die direkte Konfrontation bringt dann meistens schon gar nichts mehr. Manchmal haben wir es auch, wie etwa bei Martin Heidegger, mit Menschen zu tun, die sich dafür entschieden haben, an die Weltherrschaft des Bösen zu glauben. Da ist es in Ordnung, eine Grenze zu ziehen und diesen Weg nicht mitzugehen. Dafür braucht sich niemand schuldig zu fühlen. Wenn die Menschen sich selbst oder andere gefährden, muss man Hilfe holen. Man wird leider nicht alle Menschen aus dem Verschwörungsglauben herausholen können.
Frage: Was können die Kirchen oder andere Religionsgemeinschaften tun, damit sich Verschwörungsmythen nicht weiterverbreiten?
Blume: Verschwörungsglauben war schon immer ein im Kern religiöses Problem - und das nicht erst seit Corona. Es geht um die Frage, ob ich der Welt, anderen Menschen und auch Gott vertraue. Ich sehe da die Kirchen, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften in einer Aufgabe der Seelsorge. Das ist vielleicht auch sogar die Kernaufgabe von guten Religionsgemeinschaften, dass sie den Menschen Hoffnung geben und dabei helfen, mit Ängsten umzugehen. Ich bin zwar kein Theologe, sondern Religionswissenschaftler, aber ich würde meinen, dass das Evangelium eine Frohe Botschaft ist, und gute Nachrichten können Verschwörungsgläubige gerade sehr dringend brauchen.
Frage: Auch in den Kirchen und anderen Religionen gibt es Gruppen, die mit Verschwörungsmythen kokettieren. Wie sollten die Verantwortlichen dagegen vorgehen: Klare Kante oder verständnisvoller Dialog?
Blume: Ich habe lange Zeit Verständnis dafür gehabt, dass die Kirchen mit allen im Gespräch bleiben und sich nicht Abgrenzen wollten. Aber inzwischen sehen wir alle, dass Zurückhaltung bei diesem Thema nichts bringt, sondern als Zustimmung verstanden wird. Autoritäre Persönlichkeiten reagieren nicht auf Kuschelpädagogik, vielmehr lechzen sie nach klaren Grenzen. Deshalb würde ich religiöse Verantwortliche dazu aufrufen, dass sie klar sagen, was etwa ein Glauben an den Teufel nicht ist, und dass man andere Menschen nicht mit dem Satan identifizieren kann. Oder auch, dass es nicht in Ordnung ist, demokratisch gewählte Politiker der Weltverschwörung zu bezichtigen. Ich wünsche mir eine klare Haltung des Lehramtes, weil das für die Verschwörungsgläubigen wichtig ist. Wir tun Anhängern von Verschwörungsmythen keinen Gefallen damit, sie in ihrer Unsicherheit allein zu lassen.