300 Missbrauchsbetroffene, 200 Beschuldigte im Bistum Münster, hohe Dunkelziffer

Studie: Leitungsversagen der Bischöfe Höffner, Tenhumberg und Lettmann

Veröffentlicht am 02.12.2020 um 11:39 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ 300 Betroffene, 200 Beschuldigte: Das ist das Zwischenergebnis der unabhängigen Untersuchung zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster. Die Forscher sprechen von einem "intensiven Leitungs- und Kontrollversagen" der Bistumsverantwortlichen.

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Eine unabhängige Untersuchung zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster stellt große Milde der früheren Bistumsleitungen gegenüber straffällig gewordenen Priestern fest. Wie Wissenschaftler der Universität Münster am Mittwoch in einer Online-Pressekonferenz erläuterten, ist ein Großteil der Taten nur einigen Mehrfachtätern zuzuschreiben. Sie seien aber immer wieder in der Pfarrseelsorge eingesetzt worden. Den Bischöfen Joseph Höffner (Amtszeit: 1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) bescheinigten die Studienautoren ein "intensives Leitungs- und Kontrollversagen".

Dieses erklärte der Historiker Bernhard Frings mit einem Spannungsverhältnis: Die Bischöfe und ihre Generalvikare seien ihren Priestern einerseits als Richter, anderseits aber auch als geistlicher Begleiter und Freund begegnet. "Bei Fällen sexuellen Missbrauchs scheinen sie dabei den Täter zuvorderst als Mitbruder gesehen zu haben, dem seine Sünden zu vergeben waren." Die vorgeschriebenen kirchenrechtlichen Strafverfahren bei schwerem Missbrauch seien von den Bischöfen ignoriert worden; erst 2007 wurde nach Erkenntnissen der Wissenschaftler der erste Fall ordnungsgemäß behandelt. Die Untersuchung zählt bislang rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte zwischen 1945 und 2018. Die Zahl könne sich mit weiteren Recherchen noch verändern, erklärte der Historiker und Studienleiter Thomas Großbölting. Er sprach von einer hohen Dunkelziffer.

Das Forschungsteam stellte zunächst Zwischenergebnisse auf der Basis von rund einem Viertel der Fälle vor, die 82 Betroffene und 49 Beschuldigte umfassen. 90 Prozent dieser Betroffenen seien männlich; das Durchschnittsalter beim ersten Übergriff liege bei elf Jahren. Ein Großteil der Betroffenen habe sich erst nach 2010 bei der Diözese gemeldet. Dennoch sei Missbrauch durch Priester bereits seit den 1950er-Jahren im Bistum bekannt gewesen.

Mehrere hundert Akten ausgewertet und etwa 70 Interviews geführt

Laut Großbölting hat das Forschungsteam aus vier Historikern und einer Ethnologin innerhalb von rund einem Jahr mehrere hundert Akten ausgewertet und etwa 70 Interviews geführt. Im Frühjahr 2022 sollen die endgültigen Ergebnisse vorliegen und weitere Namen von Verantwortlichen genannt werden, die etwa Missbrauch vertuscht und ein rechtliche Verfolgung von Tätern vereitelt haben. Dabei gehe es nicht nur um die rechtliche Aufarbeitung, so der Historiker. Das Team wolle auch Systeme und Einstellungen beleuchten, die Missbrauch begünstigt und zur Vertuschung beigetragen haben.

Das Bistum Münster hat die Untersuchung beauftragt und finanziert sie mit rund 1,3 Millionen Euro. Die Diözese hat laut Großbölting keine Eingriffsmöglichkeiten und bisher volle Unterstützung gewährleistet. Die Arbeit knüpft an eine 2018 vorgestellte Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe an. Sie hatte im Bistum Münster mindestens 450 Betroffene und 138 beschuldigte Kleriker in den Jahren 1946 bis 2014 verzeichnet. Kürzlich hatte Großbölting bereits erste Charakteristika zum Vorgehen der Bistumsleitung bei Missbrauch genannt. Die "bischöfliche Fürsorge" habe sich "lange Zeit immer zuerst auf den Täter" gerichtet, sagte der Historiker Anfang November. "Dabei geht es darum, die priesterliche Existenz des Mitbruders zu erhalten." Dahinter stecke die Vorstellung vom besonderen Wert des geweihten Priesters.

Die nun vorgestellten Erkenntnisse seien nicht überraschend, aber erschreckend, erklärte der Interventionsbeauftragte der Diözese, Peter Frings. Für die früheren Bistumsverantwortlichen sei auch das Bild der Kirche nach außen offenbar die oberste Leitschnur gewesen. "Das bleibt für uns heute unverständlich und lässt uns fassungslos zurück."

Auch andere Bistümer lassen Missbrauchsfälle von externen Stellen untersuchen. So hatte die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) Mitte November ihr Gutachten für die Diözese Aachen vorgestellt. Das Erzbistum Köln hatte die Veröffentlichung eines Berichts derselben Sozietät abgesagt und dies mit methodischen Mängeln begründet. Nun soll bis 18. März 2021 eine neue Untersuchung von einem anderen Rechtsexperten erarbeitet werden. Dann soll es auch eingeschränkten Einblick in das WSW-Gutachten geben. (tmg/KNA)

2.12., 12:45 Uhr: Ergänzt um wetere Details. 16:15 Uhr: Ergänzt um Reaktion Bistum Münster.