Historiker Großbölting im katholisch.de-Interview

Leiter der Missbrauchsstudie in Münster: Opfer wurden am Reden gehindert

Veröffentlicht am 05.12.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Bereits im Zwischenbericht zur Münsteraner Missbrauchsstudie zeichnet sich ein erhebliches Fehlverhalten von Bischöfen ab. Im Interview mit katholisch.de erklärt Studienleiter Thomas Großbölting, dass er 2022 noch mehr Namen nennen wird – und sich dafür den Umgang mit Stasi-Akten zum Vorbild nimmt.

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Noch bis zum Frühjahr 2022 arbeitet der Historiker Thomas Großbölting den Umgang mit Missbrauch im Bistum Münster auf, vor einigen Tagen hat er einen ersten Zwischenbericht vorgestellt. Er will ein breites Bild der Geschehnisse zeichnen, das neben juristischen auch gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt. Im katholisch.de-Interview sagt er auch, was er vom Umgang Kardinal Woelkis mit der Missbrauchsaufarbeitung in dessen Bistum hält.

Frage: Sie haben in Ihrer Studie mit Fällen zwischen 1945 und 2018 im Bistum Münster eine große Milde festgestellt im Umgang mit Schuldigen. Was heißt das genau, Herr Großbölting?

Großbölting: In der Personalkonferenz von Bischof, Weihbischöfen, dem Generalvikar und dem Leiter der Personalabteilung wurden Missbrauchstaten gemeldet. Das geschah meistens in einer eher "verdrucksten" Form. Das heißt, man behandelte die Fälle wenig explizit, sondern gab sie schnell an diejenigen weiter, die regional zuständig waren, beispielsweise an den Weihbischof. Wenn es ausführlichere Beratungen gab, war die Zielrichtung ganz deutlich: den Täter nicht verurteilen und dem "Mitbruder" zu ermöglichen, weiter priesterlich tätig zu sein. Diese Vorgehensweise lässt sich vielleicht theologisch erklären, hat aber mit Recht wenig zu tun. Die Bistumsleitungen gingen über die Jahrzehnte hinweg dezidiert andere Wege, als es sowohl das weltliche als auch das Kirchenrecht vorsah. Das hat sich in der Kirche erst mit der Jahrtausendwende und der Aufdeckung der Vorkommnisse am Canisius-Kolleg in Berlin geändert.

Thomas Grossboelting im Portrait
Bild: ©picture alliance/dpa/Jan-Philipp Strobel

Thomas Großbölting ist Historiker an der Uni Münster.

Frage: Und so haben in Münster auch die Bischöfe gehandelt?

Großbölting: Ja, das betrifft auch die Bischöfe. Wir werden das im März 2022, wenn wir die Studie veröffentlichen, ausführlich dokumentieren. Aktuell gehen wir davon aus, dass es beispielsweise in der langen Amtszeit des inzwischen verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann eine Reihe von Fällen gibt, in denen er nicht nur moralisch, sondern auch juristisch und kirchenrechtlich nicht korrekt gehandelt hat.

Frage: Wie wurde mit den Opfern umgegangen?

Großbölting: In der ganzen Gesellschaft ist Opferorientierung erst seit den 1990ern und 2000er Jahren ein Phänomen. Vorher war sie viel weniger ausgeprägt. Das fällt in der Kirche, zu deren Anspruch die Orientierung am Nächsten ja gehört, noch mal besonders auf. Man hat versucht, Opfer am Publizieren oder Reden über diese Dinge zu hindern, indem man schnelle Lösungen anbot und auf die Konsequenzen verwies, die das Ganze haben könnte. Opfer wurden in der Regel mit ihren Anliegen abgekanzelt.

Frage: Sie wollen bei der Veröffentlichung der Studie auch Namen nennen – wie werden gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte der Täter geschützt? Man hat ja am Beispiel des Erzbistums Köln gesehen, dass das ein ganz sensibles Thema ist…

Großbölting: Unser Referenzmodell ist eher das Vorgehen im Bistum Aachen und nicht das Vorgehen in Erzbistum Köln. Ich habe drei Jahre lang in der Stasi-Unterlagen-Behörde die Forschungsabteilung geleitet. Da gab es ein Verfahren, das ziemlich klar regelt, wie man bei der Nennung der Täter vorgeht und trotzdem Persönlichkeitsrechte schützt – das ist schon möglich! Wir wollen in unserer Studie auch nicht den Ortspfarrer X, der seine Strafe verbüßt hat, nochmal an die Öffentlichkeit zerren. Es geht uns um sogenannte "relative Personen der Zeitgeschichte", also vor allem um Bischöfe, die Bistumsleitung und Personalverantwortliche. Wenn jemand als Funktionsträger in Personalverantwortung nicht verantwortlich gehandelt hat, wollen wir das benennen. Wir werden die Personen vor Veröffentlichung der Studie benachrichtigen, sie können sich äußern und wir prüfen dann, ob wir falsch liegen. Wenn wir aber bei unserem Urteil bleiben, dann werden wir in der Studie auch die andere Darstellung dokumentieren. So stellen wir Transparenz her.

Frage: Sie hatten gerade schon kurz die Vorgehensweise des Erzbistums Köln mit der Studie der Münchener Kanzlei der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) erwähnt, die nun nicht veröffentlicht wird. Davon scheinen Sie nicht viel zu halten...

Großbölting: Kardinal Rainer Maria Woelki hatte angekündigt, alle Umstände möglichst radikal offenzulegen, nun ist das Gegenteil der Fall. Über jede Studie kann man natürlich diskutieren. Das ist nicht der Punkt, jede Studie kann Fehler haben. Aber was nicht geht, ist, dass man die Ergebnisse dem Diskussionsprozess völlig entzieht, indem man sie gar nicht veröffentlicht. Auch, dass Kardinal Woelki den Betroffenenbeirat benutzt hat, um das zu rechtfertigen, ist aus meiner Sicht nicht zu akzeptieren. Übrigens: Wenn die Kölner Studie von Westpfahl Spilker Wastl ähnlich wie die vor wenigen Wochen ebenfalls von ihnen veröffentlichte Studie über den Missbrauch im Bistum Aaachen gemacht ist, dann ist nicht zu vermuten, dass sie größere Fehler enthält.

Frage: Was halten Sie denn von dem Kriterium der Rechtssicherheit, das im Zusammenhang mit der Kölner Studie auch genannt wurde?

Großbölting: Es scheint auf dem Feld des Äußerungsrechts – also was zum Beispiel so ein Gutachten über bestimmte Personen behaupten kann und wie das dann im Zweifel juristisch belangt werden kann – tatsächlich noch Lücken zu geben. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Täter und die Verantwortlichen sich hinter diesen Lücken verstecken können und vor lauter Angst, eventuell juristisch belangt zu werden, auf eine konstruktive Aufarbeitung verzichtet wird. Wer auf diesem Hintergrund "Rechtssicherheit" fordert, der vehindert eine der Prävention dienliche Aufarbeitung.

Der emeritierte Bischof von Münster Rheinhard Lettmann (1933-2013).
Bild: ©KNA

Hat Fehler im Umgang mit dem Missbrauch begangen: Der verstorbene Bischof von Münster, Reinhard Lettmann (1933-2013).

Frage: Was glauben Sie generell mit Blick auf die anderen Bistümer? Könnte es sein, dass mehr Altbischöfe eine Rolle wie Bischof Mussinghoff in Aachen gespielt haben oder wie Sie auch bei Bischof Lettmann angedeutet haben?

Großbölting: Wir haben in unserer Studie Anhaltspunkte, dass es durchaus Unterschiede gibt, wie die jeweiligen Bischöfe in Münster mit sexuellem Missbrauch umgegangen sind. Das wird man auch bundesweit sehen. Es gibt emeritierte Bischöfe, die in ihrer Amtszeit sensibler mit dem Thema umgegangen sind und solche, die damit weniger sensibel umgegangen sind. Seit den 1980er Jahren hat der Vatikan die Zügel angezogen und Ortsbischöfe verpflichtet, sexuellem Missbrauch stärker nachzugehen. Da ist es schon interessant, zu sehen, wie die einzelnen Ortsbischöfe mit diesen Vorgaben umgingen.

Frage: Sie sind Historiker, bei der Missbrauchsaufarbeitung geht es aber vor allem um Juristisches. Wie passt das zusammen?

Großbölting: Für meine Kollegen und mich sind die juristischen und kirchenrechtlichen Aspekte ein Aspekt unter mehreren. Wir haben uns in die juristische Materie eingearbeitet und werden auch beraten von einer ganzen Reihe Juristen von der Universität Münster. Historiker können aber eine breitere Perspektive als Juristen einnehmen: Juristen müssen beurteilen, ob individuelles Verhalten einer bestimmten Norm entsprochen hat oder nicht. Wir als Historiker können auch andere Kategorien zur Beurteilung eines bestimmten Verhaltens einbeziehen: Die vorherrschende öffentliche Meinung einer bestimmten Zeit etwa und Fragen von Moral und Ethik. Und das kann für die Prävention sogar wichtiger sein. Ein Beispiel: In Aachen wurde jetzt mit Altbischof Mussinghoff ein juristisch Verantwortlicher benannt. Man darf aber nicht der Gefahr erliegen, jetzt einen Haken daran zu machen. Die Aufarbeitung jenseits davon muss weitergehen: Es gilt, Strukturen, Mentalitäten und Verhaltensweisen aufzudecken, die vielleicht heute noch den Missbrauch begünstigen.

Linktipp: Missbrauch im Bistum Aachen: Täterschutz statt Opferfürsorge

Frühere Aachener Bistumsspitzen haben im Umgang mit Missbrauchsfällen versagt: Das legt ein neues Gutachten nahe. Die Autoren wollen dabei aber nicht einzelne Personen "an den Pranger" stellen – es geht vielmehr um die Fehler im System der Kirche.

Von Gabriele Höfling