"Musterbeispiel" Todesstrafe: So ändert sich Kirchenlehre
Papst Franziskus hat nochmal nachgelegt: In seiner jüngst veröffentlichten Enzyklika "Fratelli tutti" spricht er sich erneut dezidiert gegen die Todesstrafe aus. "Heute sagen wir klar und deutlich, dass 'die Todesstrafe unzulässig ist', und die Kirche setzt sich mit Entschlossenheit dafür ein, zur Abschaffung der Todesstrafe in der ganzen Welt aufzurufen", heißt es in dem Rundeschreiben an die Bischöfe und Gläubigen.
Die katholische Kirche lehrt, dass es niemals, egal unter welchen Umständen, einen gerechtfertigten Grund gibt, einen Menschen zum Tode zu verurteilen. Allerdings tut sie das erst seit zwei Jahren offiziell. Im August 2018 hatte Papst Franziskus in einem aufsehenerregenden Schritt die Änderung der entsprechenden Nummer im Katechismus – 2267 – veranlasst. Ausschlaggebend für die Lehränderung war allerdings nicht diese Neuformulierung, sondern eine begleitende Verlautbarung des Heiligen Stuhls – schließlich kann in den Katechismus, der die Gläubigen in den Grundsatzfragen des christlichen Glaubens unterweisen soll, nur das aufgenommen werden, was bereits als kirchliche Lehre formuliert worden ist. Die Aufnahme in den Katechismus allein macht etwas noch nicht zum verbindlichen Glaubensgut.
Legitimes Mittel in Ausnahmesituationen
Auch wenn die Kirche die Todesstrafe nie wirklich "befürwortet" hat: Jahrhundertelang war sie in bestimmten Ausnahmesituationen als legitimes Mittel angesehen worden. So war man beispielsweise der Ansicht, der Staat dürfe zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung auch Gewalt anwenden, im äußersten Notfall auch die Todesstrafe verhängen. Dabei berief man sich auf eine Stelle im Römerbrief, in der Paulus schreibt, dass die Staatsmacht im Dienste Gottes stehe und nicht ohne Grund das "Schwert" trage (vgl. Röm 13,4). Die meisten Argumentationsmuster, die sich im Laufe der Kirchengeschichte angesammelt haben, tauchten bis in das Pontifikat Johannes Pauls II. (1978-2005) hinein auf und fanden schließlich auch Eingang in den Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, dessen Erstellung der Papst aus Polen initiiert hatte.
Allerdings machte Johannes Paul II. einen entscheidenden Aspekt stark: Eine Todesstrafe zu verhängen, sei zwar nicht illegitim, aber praktisch nicht mehr notwendig, da die Justiz heutzutage andere Möglichkeiten habe, um potenziell schädliche Verbrecher unschädlich zu machen. Wenn diese Mittel allerdings nicht wirksam seien, wäre die Verurteilung zum Tode als "Ultima Ratio" gerechtfertigt. In der Enzyklika "Evangelium vitae" (1995) werden weitere Einschränkungen vorgenommen: So müsse das Vergehen einwandfrei geklärt sein, außerdem dürfe beim Urteil keine Willkür im Spiel sein. Der entsprechende Passus aus dem Rundschreiben wurde schließlich in die Editio typica des Katechismus, die lateinische Fassung aus dem Jahr 1997, aufgenommen. Doch dazu durchringen, die Todesstrafe auch theoretisch abzulehnen, konnte sich Papst Johannes Paul II. nicht.
Diesen Schritt weiter ging schließlich Papst Franziskus: Die Todesstrafe sei nicht nur praktisch nicht mehr notwendig, sondern generell illegitim, so seine Überzeugung. Seine Argumente macht er in "Fratelli tutti" nochmal deutlich: Es sei ins Lebensrecht eines jeden einzelnen Menschen eingeschrieben, dass man ihn nicht töten darf – egal, ob er schuldig oder unschuldig ist. Die Todesstrafe zu verhängen, sei daher eine Verletzung der Menschenwürde. Zudem macht er einen anderen Aspekt stark, den auch die kirchliche Tradition kennt: Man müsse einem Verbrecher immer die Möglichkeit einräumen, sich zu bessern. Wenn er sich bessere, habe er die Todesstrafe nicht mehr verdient. Und wenn man ihn zum Tode verurteilt, kann er sich nicht bessern.
Widerspruch zur Heiligen Schrift?
Innerkirchlich war die grundsätzliche Ächtung der Todesstrafe durch Franziskus nicht unumstritten. Besonders aus konservativ-traditionalistischen Kreisen gab es scharfen Widerspruch. So hieß es etwa, die Kirche habe nicht geirrt, als sie noch den Standpunkt vertrat, dass die Ausübung der Todesstrafe unter bestimmten Umständen zulässig sei. Für manche Kritiker war die Neuformulierung des Katechismus sogar skandalös, weil sie im Widerspruch zur Heiligen Schrift stehe, über die sich das Lehramt niemals hinwegsetzen dürfe.
Der Brixener Moraltheologe Martin M. Lintner sieht das anders. Es sei zwar richtig – und dieses Argument tauche oft auf – dass in der Bibel die Todesstrafe nicht abgelehnt werde. "Aber die Sklaverei auch nicht. Und trotzdem ist die Kirche im Laufe der Geschichte zu der Erkenntnis gekommen, dass die Sklaverei der Würde des Menschen widerspricht." Auch wenn in der Bibel keine dezidierte Ablehnung der Todesstrafe zu finden sei, herrsche in der Bibel eine Haltung vor, die der Anwendung von Gewalt entgegenstehe. Daher sei auch die kirchliche Ächtung der Todesstrafe konsequent – und richtig, betont Lintner: "Ihre Vollstreckung widerspricht aus heutiger Sicht eindeutig dem Geist des Evangeliums".
Entsprechend ist auch die Formulierung in der neuen Nummer 2267 im Katechismus gewählt, in der nun von der Unzulässigkeit der Todesstrafe "im Lichte des Evangeliums" die Rede ist. Diese neue Haltung sieht Lintner dabei eher als Bruch denn als Weiterentwicklung der früheren kirchlichen Auffassung an. Auch wenn eine Linie erkennbar sei, gehe Franziskus weit über seine Vorgänger hinaus. "Johannes Paul II. war zweifelsfrei ein Gegner der Todesstrafe und hat sich deshalb dafür eingesetzt, dass sie nicht angewandt wird. Dennoch hat er gegen die Kritik von Menschenrechtsgruppen an ihrer theoretischen Legitimierung festgehalten." Franziskus hingegen lehnt sie sowohl praktisch als auch theoretisch ab. "Er hat die Lehre radikal weitergedacht – und zwar so, dass er sie damit tatsächlich verändert hat", so der Moraltheologe.
Rückbesinnung – und Korrektur
Weitreichende Änderungen der Kirchenlehre hat es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Eines der bekanntesten Beispiele ist das Zinsverbot für Katholiken im Mittelalter. "Das hat man fallengelassen, als sich ein neues Wirtschaftssystem entwickelt hat, bei dem dieses Verbot keinen Sinn mehr gemacht hat", weiß Lintner. Auch die Neuformulierung der Ehezwecke auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ordnet Lintner eher in den Bereich der Änderungen statt der Kontinuität ein: Lehrte die Kirche früher, dass der Hauptzweck der Ehe in der Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft bestehe, heißt es in der Pastoralkonstitution "Gaudiums et spes", dass zusätzlich das "Wohl der Gatten" gleichrangiges Eheziel sei. "Das ist nicht einfach nur eine organische Weiterentwicklung, das ist eine Rückbesinnung auf die Heilige Schrift und damit auch eine gewisse Korrektur der Tradition", so Lintner.
Eine solche müsse auch bei anderen Themen möglich sein, findet der Moraltheologe. "Da würde ich immer das Wort von Papst Johannes XXIII. bemühen, der sinngemäß gesagt hat: 'Wir sind in einem geschichtlichen Prozess, in dem wir auch je tiefer den Geist, die Botschaft des Evangeliums entdecken.'" Zugleich sei die Kirche und damit auch die Theologie immer auch den neuesten philosophischen und humanwissenschaftlichen Einsichten verpflichtet. "Wenn man über Jahrhunderte hinweg nicht das gewusst hat, was wir heute beispielsweise über Homosexualität wissen, kann man die gleichen Urteile nicht ständig wiederholen", so Lintner. Vor diesem Hintergrund müsse die Kirche ihre Tradition und damit ihre Lehre immer wieder auf den Prüfstand stellen und weiterentwickeln – gegebenenfalls auch revidieren und ändern. So, wie das auch beim Thema Todesstrafe passiert ist.