Kardinal Marx nennt Signal von Kölner Missbrauchsstudie "verheerend"
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx sieht die Nichtveröffentlichung der Missbrauchsstudie im Erzbistum Köln als "verheerend" für die gesamte Kirche an. "In der Öffentlichkeit wird nun wahrgenommen, dass Juristen über Spitzfindigkeiten auf dem Rücken der Betroffenen streiten", kritisierte Marx im Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Dienstag). Er wolle das vergleichbare Gutachten für München und Freising nach der Vorlage 2021 vollständig veröffentlichen, so der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK).
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hatte ein Gutachten bei einer Münchner Kanzlei in Auftrag gegeben, das die Rolle der Kölner Amtsträger im Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter beleuchten sollte. Woelki hatte angekündigt, es zu veröffentlichen. Vor wenigen Wochen bezeichnete er es als methodisch fehlerhaft und rückte von der Veröffentlichung ab.
Zum Münchner Gutachten sagte Marx, es sei so angelegt wie im Bistum Aachen; "also sollen Verantwortliche benannt werden". Es könne nicht darum gehen, etwa seine Amtsvorgänger, die Kardinäle Joseph Ratzinger (nachmals Papst Benedikt XVI.) und Friedrich Wetter zu schonen. "Alle wissen, wer in den vergangenen Jahrzehnten Erzbischof von München und Freising war oder andere Verantwortung hier hatte, mich eingeschlossen", so Marx.
Wetter und Ratzinger hatten einen sexuell gewalttätigen Priester im Dienst belassen. Auch das werde Thema des Gutachtens sein, sagte der Kardinal. "Was wer wann und wie genau gewusst hat", wisse er nicht. Das solle das Gutachten aufklären. Als erste deutsche Diözese hatte das Erzbistum München und Freising unter Marx 2010 einen unabhängigen Missbrauchsbericht vorgestellt, für den die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) Personalakten seit 1945 durchforstete. Ein erweitertes Gutachten wurde Ende Februar bei derselben Kanzlei in Auftrag gegeben. Es soll den Zeitraum bis 2019 und damit auch die Amtszeit von Marx einschließen und Verantwortliche für etwaige Versäumnisse nennen. Der Bericht werde nicht vor Frühjahr 2021 fertig sein, hieß es zuletzt beim Erzbistum.
Marx stiftete schon früher für Missbrauchsopfer
Marx berichtete zudem, schon im Jahr 2012 aus seinem Privatvermögen knapp 100.000 Euro an Missbrauchsopfer gegeben zu haben. Auslöser sei 2010 ein Reporter der "New York Times" gewesen, sagte der 67-Jährige. Dieser habe ihn einmal gefragt, ob die Missbrauchsskandale seinen Glauben verändert hätten. Er habe geantwortet: Ja - und bald darauf mit 97.000 Euro die damaligen Leistungen für die Opfer im Erzbistum bezahlt.
Marx hatte Anfang Dezember die Gründung einer Stiftung für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Kirche mitgeteilt. Er habe sich entschlossen, dafür "den allergrößten Teil" aufzuwenden, insgesamt 500.000 Euro, so der Kardinal. Die Stiftung trägt den Namen "Spes et Salus" (Hoffnung und Heil). Sie soll laut Satzung einen Beitrag zur "Selbstermächtigung" der Betroffenen leisten. Diese würden "gleichberechtigt" an der Ausgestaltung der Stiftungsleistungen beteiligt.
Im SZ-Interview sagte Marx nun, er habe seine Aktion öffentlich gemacht, "damit vielleicht auch andere sagen: Das finden wir gut, wir geben Geld dazu. Gerne auch international; wir haben ja hier kein deutsches Problem, sondern eines der Weltkirche." Marx war bis 2019 auch DBK-Vorsitzender. Er räumte ein, dass er für die Stiftungspläne seitdem etwas freier sei als mit diesem Amt. So könne keiner unterstellen, er wolle etwa seine Mitbrüder damit unter Druck setzen. Zuletzt sei das Nachdenken über die Stiftung konkreter geworden, so Marx; als ihm "klar wurde, dass Menschen durch das, was ihnen im Raum der Kirche angetan wurde, ihren Glauben verloren haben".
Auf die Frage: "Wieso hat der so viel Geld?", sagte der Kardinal: "Die Antwort ist ganz einfach: Weil er's nicht ausgegeben hat." Er habe "nichts geerbt, kein Eigentum, kein Haus. Ich habe keine teuren Hobbys, ich kaufe Bücher, ab und zu muss eine Zigarre drin sein". Ihm sei immer klar gewesen, dass er sein Vermögen nicht für sich verbrauchen werde, sagte Marx der SZ. Es blieben ihm ja "noch gut 100.000 Euro - und ich verdiene ja weiterhin Geld, Besoldungsgruppe B 10"; das entspricht einem Monatsbrutto von 13.654 Euro.
Marx: Das Prinzip führen und folgen hat keine Zukunft
Marx wünscht sich zudem nach eigenen Worten eine Abkehr von einem "vielfach intransparenten Kastensystem" in der Kirche. "Dass die einen leiten und die anderen folgen müssen, das ist keine Perspektive für die Zukunft", sagte der Kardinal. Die klerikale "Closed-Shop-Mentalität von Männern" sei "nicht gut".
Der Frage von Frauen im Priesteramt wich Marx aus. "Aber die Beteiligung von Frauen ist weiter unzureichend", sagte er. Das habe er auch dem Papst gesagt. Auch habe er, Marx, dem Papst jene sechs der sieben Laienmitglieder im Päpstlichen Wirtschaftsrat vorgeschlagen, die Frauen seien. Diese hätten sich kürzlich in der ersten Sitzung "kompetent und selbstbewusst eingebracht". Im Laufe der Jahre habe er gelernt, so der Kardinal: "Gemischte Gruppen arbeiten besser. Der liebe Gott hat sich etwas dabei gedacht, dass es Männer und Frauen gibt. Und nicht nur, damit es Kinder gibt." (tmg/KNA)