Rollentausch auf Zeit als Mahnung zu Demut

Umgekehrte Macht: Wenn Kinderbischöfe und Novizen herrschen

Veröffentlicht am 15.02.2021 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ An Karneval werden Rathäuser erstürmt und Narren übernehmen symbolisch die Macht. Doch auch an bestimmten kirchlichen Gedenktagen und Festen gibt es die Tradition der Umkehrung von Herrschaft. Wenn Kinderbischöfe und Novizen die Leitung übernehmen, ist damit oft eine Mahnung verbunden.

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Wenn verkleidete Frauen Männern ihre Krawatten abschneiden oder närrisches Volk die Rathäuser stürmt, um symbolisch für wenige Tage die Herrschaft zu übernehmen, dann sind Karneval, Fasching und Fastnacht in vollem Gange. In diesem Jahr ist wegen der Bestimmungen aufgrund der Corona-Krise die Feier der "fünften Jahreszeit" im gewohnten Rahmen nicht möglich. Dennoch suchen viele Karnevalisten nach geeigneten Formen, um durch die "jecken Tage" dem Alltag zu entfliehen – denn zu vielen Bräuchen an Fastnacht gehört dazu, dass sie durch einen augenzwinkernden Blick auf die Gegenwart das Leben etwas erträglicher machen wollen. Die Verballhornung von Herrschaftsverhältnissen ist deshalb untrennbar mit dem Karneval verbunden.

Doch auch einige Bräuche an bestimmten kirchlichen Fest- und Gedenktag haben sich aus der Umkehrung von Macht heraus entwickelt. So war das Bischofsspiel vom 10. bis zum 18. Jahrhundert in Europa weit verbreitet. An vielen Dom-, Stifts- und Klosterschulen gab es den Brauch, dass die Schüler und jungen Kleriker aus ihren Reihen einen Kinderbischof wählten. Mancherorts wurde auch ein "Abt" und in Augsburg sogar ein "Papst" gewählt. Der kindliche Oberhirte übernahm für einen begrenzten Zeitraum die Rolle des Bischofs: Mit Krummstab, Mitra und Pontifikalgewändern ausgestattet zog der Gewählte in feierlicher Prozession durch die Stadt, predigte bei Vespern und spendete den Segen. Begleitet wurde er oftmals sogar von einer Entourage kleiner "Diakone" und "Kapläne".

Eine Bulle gegen den Unfug der Kinderbischöfe

Die konkrete Ausgestaltung des Schülerfestes variierte von Stadt zu Stadt und konnte kuriose Züge annehmen. Die Durchführung von Gastmählern und Bettelgängen gehörte zumeist ebenso zu den Aufgaben eines Kinderbischofs wie nächtliches Singen in den Straßen und blasphemische Handlungen. Wegen zunehmender Ausschreitungen beim Bischofsspiel versuchte die kirchliche Obrigkeit das teilweise sogar gewaltsame Treiben zu verbieten. So erließ Papst Innozenz IV. 1249 eine Bulle, die den Unfug der Kinderbischöfe verbot – jedoch mit wenig Erfolg, denn der Brauch hielt sich noch einige Jahrhunderte. Erst in der Zeit der Aufklärung kam er an sein Ende.

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Die Tradition der Kinderbischöfe könnte auf die römischen Saturnalien zurückzuführen sein, bei denen die gesellschaftlichen Standesunterschiede aufgehoben wurden sowie ein gewählter "Fürst" den zahlreichen Trink- und Essgelagen vorstand. Das Bischofsspiel gewährte den Alumnen der kirchlichen Schulen meist am 28. Dezember, dem Fest der Unschuldigen Kinder, an dem auch Geschenke getauscht wurden, ein Stück ritualisierte Ausgelassenheit. Später verlagerte sich der Rollentausch auf Zeit auf den Gedenktag des heiligen Nikolaus am 6. Dezember oder auf andere bedeutende Tage des Weihnachtsfestkreises.

Die Amtszeit des "episcopus puerorum" konnte je nach Brauch von einem Tag bis zu mehreren Wochen reichen. Der amtierende Bischof galt während dieser Zeit als abgesetzt und musste zur Erheiterung der Öffentlichkeit den Anweisungen des Kinderbischofs folgeleisten. Bei aller Ausgelassenheit verband sich mit dem Bischofsspiel dennoch eine geistliche Botschaft: Der tatsächliche Oberhirte wurde durch seine "Absetzung" zur Demut aufgerufen. Ihm wurde auf spielerische Weise vor Augen geführt, dass alle irdische Macht begrenzt ist und nicht missbraucht werden darf.

Vermehrtes Anknüpfen an die Tradition der Kinderbischöfe

In den vergangenen Jahren wurde wieder vermehrt an die Tradition der Kinderbischöfe angeknüpft. So gibt es seit 1994 in der evangelischen Hauptkirche Sankt Nikolai in Hamburg jedes Jahr drei junge Oberhirten, die in Bischofsgewänder gekleidet in einer Predigt speziell auf die Sicht und die Probleme von Kindern aufmerksam machen. Auch in den USA, Großbritannien und Spanien konnte die mittelalterliche Tradition des Bischofsspiels mit neuem Leben gefüllt werden.

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In vielen benediktinischen Klöstern hat sich der Brauch etabliert, den Novizen am 15. Januar, dem Gedenktag der heiligen Maurus und Placidus, das Regiment zu übertragen. Die beiden späteren Äbte gelten als erste Schüler des Ordensgründers, des heiligen Benedikt. Wie beim Bischofsspiel können die Klosterneulinge an diesem Tag die gemeinschaftlichen Strukturen ein wenig auf den Kopf stellen: Sie nehmen die Plätze des Abtes und der weiteren Mitglieder der Klosterleitung beim Essen ein, tauschen die Hymnen des Stundengebets aus, nehmen dem Vorsteher sein Pektorale ab oder stellen Statuen im Kloster um.

Dabei gibt es keine genau festgeschriebenen Regeln, um die Ordnung im Kloster ein wenig auf den Kopf zu stellen: So berichtete die Abtei Münsterschwarzach vor einigen Jahren, dass die Novizen mehrere ausgestopfte Tiere aus dem alten Missionsmuseum in die Kirche holten. Die Mönche fanden sich im Chorraum daher plötzlich neben Löwen, Antilopen und Affen wieder. Auch Streiche rund um den morgendlichen Kaffee oder die Ausrichtung eines Filmabends mit Glühwein und Kinderpunsch sind aus anderen Abteien bekannt. Bei allem Spaß wird die Tradition auch als Mittel gesehen, um das Klosterleben augenzwinkernd zu kommentieren und für neue Sichtweisen in der streng hierarchisch organisierten Gemeinschaft zu sorgen.

Von Roland Müller